Kalter Fels
Zustimmung oder Ablehnung bedeutete. Aber er fragte nicht nach. Als die Ausfahrt zur nächsten Raststation in Sicht kam, setzte er den Blinker.
Schwarzenbacher wischte sich den Mund mit einer Papierserviette ab. Er hatte sich zum Verlängerten eine Schinken-Käse-Semmel gekauft und mit Appetit gegessen. Pablo stocherte noch immer im Apfelstrudel herum. Nicht dass er ihm nicht geschmeckt hätte. Aber er wartete immer noch darauf, dass er endlich dargelegt bekam, welche wichtigen Entdeckungen Schwarzenbacher in München gemacht hatte.
Der aber genoss Pablos Ungeduld sichtlich. Leckte sich die Lippen, schob den Unterkiefer hin und her, um Schinkenreste aus den Zahnzwischenräumen zu lösen – und grinste Pablo an.
»Ich verrate dir was«, sagte er dann, und Pablo machte große Augen. »Die größte Tugend, die ein Bulle braucht, ist nicht Verstand und ist nicht Kombinationsgabe. Die größte Tugend ist Geduld. Und wenn du wahrscheinlich auch nie ein Bulle wirst – glaub mir, Geduld kann auch dir nicht schaden.«
Pablo schaute stumm auf seinen Teller.
»Geduld«, fuhr Schwarzenbacher fort, »ist die Zeit, die es braucht, damit dein Hirn die Gedanken so lange ziellos kreisen lassen kann, bis was Vernünftiges dabei rauskommt. Und solange dein Hirn jongliert, solltest du tunlichst den Mund halten. Verstehst du, was ich meine?«
Pablo nickte.
»Dass ich dir nicht gleich erzählt habe, auf was ich da gestoßen bin, liegt an diesem Jonglieren. Zu meinem Beruf hat gehört, nicht nur Spuren zu suchen und zu finden, sondern ihnen immer auch zu misstrauen. Misstraue der Spur, und wenn sie noch so klar und deutlich ist. Vielleicht hat wer eine falsche Fährte gelegt. Oder dein Verstand spielt dir einen gottverdammten Streich.«
Pablo erwartete nicht, jetzt noch eingeweiht zu werden in Schwarzenbachers Rechercheergebnisse. Aber da täuschte er sich. Schwarzenbacher holte aus der Seitentasche seines Rollstuhls eine dünne Kladde aus hellem Karton, schob das Geschirr auf dem Tisch zur Seite und klappte sie auf.
»Du musst dich zu mir rübersetzen«, sagte er. Pablo rückte seinen Stuhl an Schwarzenbachers Seite und beugte sich zu den Papieren: Fotokopien und handschriftliche Notizen. Jede Menge Zahlen, kalendarische Daten, viele davon durchgestrichen, einige aber doppelt und dreifach unterstrichen.
»Ich hab mir unzählige Bergunfälle in Tirol und Bayern angesehen …«
»Warum nur Tirol und Bayern?«, fragte Pablo. »Warum nicht auch Südtirol, Vorarlberg, Salzburger Land?«
»Berechtigte Frage. Und zwei Antworten. Die erste lautet: weil bislang gar nicht mehr Zeit gewesen ist. Und die zweite: weil ich es im Urin gespürt habe, dass wir da, genau da suchen müssen. Was allerdings nicht ausschließt, dass wir unsere Recherchen nicht doch noch ausdehnen müssen. Aber eins nach dem andern.«
Schwarzenbacher blätterte in seinen Unterlagen, sortierte irgendwas davon nach vorn und dann doch wieder zurück.
»Ausgangspunkt war das vermeintlich einzige Faktum, das wir hatten: Todesursache Steinschlag. Aber es ist nicht das einzige Faktum. Wir wissen mehr.«
Pablo machte ein fragendes Gesicht.
»Es gibt weitere, unverrückbare Fakten«, fuhr Schwarzenbacher fort. »Das Opfer war männlich – was bei einem naturgegebenen Steinschlag keine Rolle spielen würde. Da ist es Zufall, wen es trifft. Bei einem Mord ist es vielleicht kein Zufall. Und dann haben wir noch den Unglückstag. Das Datum könnte eine Rolle spielen. Vielleicht gibt es ja im zeitlichen Umfeld ähnlich geartete ›Unglücksfälle‹, also in den Wochen davor oder danach. Oder es gibt alle Jahre am gleichen Tag einen Mord. Ich erinnere mich eines Serientäters, der immer am Todestag seines Vaters …«
Er wischte sich das Haar aus dem Gesicht.
»Vergiss es«, sagte er dann. »Es würde zu weit führen. Jedenfalls habe ich auch nach diesem Datum Ausschau gehalten: 10. Juli. Ein Serientäter? Ich hab diese Idee verlockend gefunden, zugegeben. Und ich habe einige Zeit darauf verwendet, meine Kopfgeburten mit Fakten zu füttern. Doch irgendwann musste ich diese Fährte als Sackgasse betrachten. Es gab nicht das Geringste, was als Beleg für meine vagen Vermutungen hätte herhalten können. Und außerdem …«
Er schaute Pablo mit einem süffisanten Grinsen an.
»Und außerdem gibt’s so was meistens eh nur in billigen Krimis oder im Fernseh-Tatort …«
Pablo hatte sich mehr erhofft als den Bericht über eine falsche Fährte.
»Schau nicht so
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