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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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wurde.
    »Dann geh ich hinunter ins Tal«, raunte Ferdinand im Auf-und-ab-Gehen. Immer wieder. »Geh ich runter ins Tal.«
    Irgendwann, die alte Kuckucksuhr, der ihr Kuckuck längst abhandengekommen war, die sonst aber immer noch funktionierte, zeigte zwanzig nach zehn, hörte Ferdinand mit seiner nervösen Herumlauferei auf und setzte sich an den Tisch.
    Hedwig hat gesagt, ich darf nicht weggehen, dachte er. Wegen der Lawinen. Und weil überhaupt. Hedwig hat immer gesagt, nie weggehen. Nie aus der Hütte. Am Tag schon gar nicht. Und in der Nacht auch nur ganz nah bleiben.
    Immer hatte er sich daran gehalten. War an den Wintertagen in der Hütte geblieben, war nie aus dem Haus herausgegangen. Zwar hätte es kein Mensch in der Lawinenzeit zwischen Dezember und April oder Mai zu Fuß zu ihm heraufschaffen können, aber Hedwig hatte schon recht: Konnte ja ein Flieger über die Alm hinwegfliegen, ein Hubschrauber oder neuerdings so Dinger, die wie Fallschirme aussahen, aber nicht einfach nur herunterfielen, sondern in verschiedene Richtungen flogen.
    »Wenn dich da einer sieht!«, hatte Hedwig, seine zwei Jahre ältere Schwester, lamentiert. »Niemand darf dich sehen, niemand. Niemals.«
    Anfangs hatte er das nicht verstehen können – im Sommer war er ja auch draußen. Da kamen sogar Leute vorbei. Manche redeten mit Hedwig, füllten ihre Flaschen am Brunnen und verschwanden dann wieder. Es hatte ihm erst allmählich gedämmert, was es mit dieser Anordnung auf sich hatte: Im Winter konnte kein Mensch hier leben, durfte kein Mensch hier leben, lebte kein Mensch hier. Hätte jemand gemerkt, dass er im Winter da oben lebte, in einer völlig abgeschiedenen Almhütte, fernab jeglicher Zivilisation, dann hätte das Aufsehen erregt. Dann hätte irgendwann jemand herausfinden wollen, wer er eigentlich war und warum er sich dort oben versteckte.
    Im Sommer dagegen …
    Ferdinand saß am Tisch, wippte mit dem Oberkörper vor und zurück, vor und zurück, und er sehnte sich nach dem Sommer, vor und zurück, vor und zurück. Wenn der Schnee geschmolzen wäre, das Grün wieder durchkäme, die Sonne ihn wärmen würde und Hedwig wieder da wäre, wieder da bis in den späten Herbst. Er sehnte sich nach dem Geruch der Erde und dem Geruch der Wiesen, und er freute sich darauf, wieder draußen schlafen zu können, unter dem Himmel mit seinen unzähligen Löchern drin.
    Ferdinand lächelte stumm: Sind keine Löcher, dachte er. Sind Sterne.
    Doch er hörte gleich wieder zu lächeln auf. Es war noch lange hin, bis der Winter sich ganz zurückgezogen haben würde aus den Bergen.
    Und wie viele Winter hatte er nun schon so verbracht, allein, gefangen im Schnee, die Almhütte wie eine Zelle, bewacht von den ungeheuren Schneemassen, die sich jederzeit lösen konnten. Den sicheren Platz, wo die Hütte stand, durfte man nicht verlassen. Ja, wie viele Winter war er nun schon hier?
    Ich habe immer alles gemacht, was Hedwig gesagt hat, dachte er. Immer. Sie weiß, was richtig ist. Sie ist bestimmt die Einzige, die weiß, was richtig ist.
    Bestimmt hat sie auch recht damit, dass ich in diesem Winter hier heroben bleiben muss. Alleine. Dass ich warten muss, bis es nicht mehr schneit, bis die Sonne kommt, wärmer wird, den Schnee frisst und bis die Hedwig wieder heraufkommen kann.
    Sie hatte recht.
    Aber ganz einverstanden war er trotzdem nie gewesen. Wer passte auf Hedwig auf? Wer beschützte sie? Wer würde verhindern können, dass wieder so etwas geschah, so etwas wie damals?
    Immer wenn sie Abschied nahm im Herbst und wenn sie ihm ansah, dass er sich sorgte, tröstete sie ihn und sagte, sie sei schon alt. Niemand wolle ihr noch was tun …
    »Aber …«, sagte er dann immer, »aber wenn doch …«
    »Dummer Bua, dummer«, sagte sie dann nur und lachte und ging davon, sich noch oft umschauend nach ihm und der Alm, die bald vom Schnee verschlungen werden würde.
    Er stand wieder auf, ging in der Stube hin und her, das Kerzenlicht flackerte bei seinen Bewegungen. Hin und her ging er, hin und her, bestimmt mehr als eine Viertelstunde lang. Schwierige Entscheidungen standen an, und das plagte ihn, plagte ihn umso mehr, als er seit mehr als drei mal zehn Jahren kaum mehr gefordert gewesen war, selbst Entscheidungen zu treffen. Seine Schwester, die drunten in Scharnitz wohnte, dachte und handelte für ihn. Und Ferdinand liebte sie abgöttisch. Er hätte alles für sie getan. Er hätte wieder alles für sie getan.
    * * *
     
    In der

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