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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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dem Kopf voraus auf; den Helm drückte es ihm tief ins Gesicht; der Schädel war mehrfach gebrochen und das Gehirn zerquetscht. Als die Retter eintrafen, war noch immer Leben in dem Mann. Aber der Rettungsarzt wusste gleich, dass es kein Zurück ins richtige Leben mehr gab.
    »Die mussten sich vor allem um den anderen Bergsteiger kümmern. Der kauerte noch am Rand der Rinne und brauchte die Hilfe der Bergretter, um an den Wandfuß zu gelangen«, sagte Walser. »Heftige Sache.«
    Schwarzenbacher fiel das Buch über Rechtsmedizin ein, das er sich hatte besorgen wollen. Das habe ich schon wieder ganz vergessen, dachte er. Bei Gelegenheit …
    Andererseits, dachte er dann, ist mein Bedarf an grausigen Bildern vorerst gedeckt. Eine Fleischkäs-Semmel möchte ich jetzt lieber nicht …
    Die Bilder halfen ihm freilich nicht viel weiter. Es war nur so, dass sie den Blick einfingen, dass sie eine geradezu magnetische Anziehungskraft hatten und dafür sorgten, dass Schwarzenbachers Gedanken den Halt verloren. Er musste sich immer wieder zwingen, zu den nackten Fakten zurückzukehren, zu den Unfallzahlen, den Orten, den Daten, den Berichten der Augenzeugen, den Bemerkungen der Experten. Jahr für Jahr, Jahrzehnt für Jahrzehnt ackerte er durch – es dauerte lange, bis er sich fündig wähnte.
     
    Schwarzenbacher rief beim Hauptsitz des Deutschen Alpenvereins in München an. Dasselbe Anliegen, dieselbe Vorgehensweise. Er könne jederzeit kommen und Einsicht nehmen in die Unterlagen.
    »Mach ich«, sagte er. »Ich komme nächsten Mittwoch. Früher Nachmittag?«
    Und zu Pablo sagte er: »Du hast ein Auto. Du könntest mich fahren. Ist für mich kommoder als mit der Bahn. Vormittags nach München, abends retour.«
    »Ich denke«, sagte Pablo, der nicht gleich begeistert war, »du hast Tage gebraucht im ÖAV-Archiv. Wie wollen wir das jetzt an einem Nachmittag schaffen?«
    Schwarzenbacher grinste. »Ich weiß jetzt besser, wie und was ich suchen muss. Und außerdem: Diesmal kannst du mir ja dabei helfen.«
    * * *
     
    Beim Alpenverein in München brauchten sie nicht mehr als zwei Stunden. Schwarzenbacher wusste wirklich, wonach er suchte. »Alle Steinschlagunfälle, zu denen es keine Zeugen gegeben hat. Wo die Verunglückten erst nach einer Weile, nach Stunden oder Tagen, von Fremden gefunden worden sind«, sagte er zu Pablo.
    Pablo hatte nicht nachgefragt, weil er intuitiv sicher war, keine Antwort von Schwarzenbacher zu bekommen. Zumindest nicht gleich. Er hatte jede der in Frage kommenden Seiten der verschiedenen Unfallstatistiken fotokopiert und mit gelbem Leuchtstift die Unfälle markiert, die ins Suchschema passten.
    Schwarzenbacher strahlte übers ganze Gesicht, als er die Kopien von Pablo überflog.
    »Wir kommen weiter, Junge«, sagte er. »Wir sind einen kleinen Schritt in die richtige Richtung gegangen.«
    »Ich würde gern wissen, worin dieser kleine Schritt besteht.«
    »Nur langsam, Pablo. Erst mal muss ich das in meinem Kopf alles ein bisschen hin und her jonglieren. Der Kopf« – Schwarzenbacher tippte sich seitlich über dem Ohr an – »ist immer noch das, was am besten an mir funktioniert. Während ich nachdenke, könntest du mich noch ein wenig durch die Stadt chauffieren. Ich kenn mich halbwegs aus.«
    Pablo wäre lieber zurückgefahren, statt noch in der ihm verkehrstechnisch ziemlichen fremden Stadt herumzufahren. Noch dazu im Hauptverkehr.
    »Fahr dort vorn auf den Ring. Ich sag dir, wenn du wieder runtermusst.«
    Es war für Pablo erstaunlich, wie Schwarzenbacher scheinbar mit dem einen Auge den Verkehr verfolgte und mit dem anderen die Auszüge aus den Bergunfallstatistiken studierte. Er bekam eine Ahnung davon, wie exzellent dieser Schwarzenbacher als Polizist gewesen sein musste. Ein schlauer Fuchs. Durchtrieben. Und wahrscheinlich nicht abzuschütteln, wenn er erst mal eine Fährte gewittert hatte.
    »Fahr da vorn aus dem Tunnel raus, und wenn du oben an die Ampel kommst, halt dich rechts«, sagte Schwarzenbacher.
    »Wo fahren wir eigentlich hin?«, fragte Pablo.
    »Zum Zweitausendeins. Platten- und Bücherladen. Gibt’s in Österreich nicht. Gut, vielleicht gibt es mittlerweile auch in Wien einen, weiß ich nicht. In Innsbruck jedenfalls gibt es keinen.«
    »Und was ist daran so besonders?« In Pablos Stimme lag ein vorwurfsvoller Unterton. Er konnte es schlichtweg nicht fassen, dass er wegen eines Platten- und Bücherladens eine Dreiviertelstunde durch München kurven, ewig nach einem

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