Kalter Fels
Schwarzenbacher mit einem Lächeln. »Es ist schon zu viel Zeit vergangen, seit der Unfall oder der Mord 1974 geschehen ist. Mehr Zeit sollte nicht mehr ungenutzt verstreichen.«
»Gleich geht nicht«, sagte Walser entschieden. »Aber wenn Sie morgen wieder kämen. Wir machen um neun Uhr auf«, sagte er, und es klang, als wollte er noch ein weiteres Aber nachschieben. Doch Schwarzenbacher fiel ihm ins Wort und sagte ganz kategorisch: »Dann bin ich um neun Uhr da.«
Er war am nächsten Tag um neun Uhr da. Und am Tag danach wieder. Und am übernächsten auch. Er wühlte sich hinein in die Unterlagen des Alpenvereins, durchforstete Statistiken, las Unfallberichte und studierte die damit verknüpfte Ursachenforschung. Er, der auch vor dem Ausbruch der Multiplen Sklerose kein Interesse an den Bergen und dem Bergsteigen gehabt hatte, wurde binnen weniger Tage fast so etwas wie ein Fachmann für Bergunfälle. Die Akten, die ihm Walser nach und nach brachte, konfrontierten ihn mit gerissenen Seilen, mit Höhenkrankheit und Lungenödemen, mit Stürzen in versteckte Gletscherspalten. Es ging darin um Steinschlag, Eisschlag, Blitzschlag. Um Erschöpfung, Unterkühlung, Erfrierung. Er musste sich jede Menge scheußlicher Bilder ansehen, was er immerhin von seinem früheren Beruf her gewohnt war. Bilder von Toten, die nach Abstürzen über mehrere hundert Meter völlig verdreht und entstellt waren.
Die müssen immer wieder auf den Felsen aufgeschlagen sein, dachte Schwarzenbacher. Es war selbst ihm, dem ziemlich hartgesottenen Expolizisten, eine sehr unangenehme Vorstellung, so zu sterben: stürzend … stürzend, aufschlagend, weiterstürzend, aufschlagend … aufschlagend und weiter bis zum Ende, bis zum erlösenden Ende.
Er sah amateurhafte Farbfotografien, die dennoch alles zeigten: ausgebleichte Haut toter Menschen, die längere Zeit im Gletscher gelegen hatten, ausgetretene Gedärme nach Verletzungen mit einem Eispickel, Köpfe, die nach Sturz oder Steinschlag aufgeplatzt waren wie Kokosnüsse.
Am meisten bewegten ihn aber nicht jene Nahaufnahmen des alpinen Todes. Am meisten berührte ihn die wie beiläufig gemachte Aufnahme von einem verunglückten Menschen, der im Schnee lag, als wäre es nur Spaß. Das Tödliche des Augenblicks ging gar nicht so sehr von diesem Mann aus, sondern vielmehr von einem Begleiter oder einem, der zu Hilfe gekommen war: Der kniete neben dem im Schnee liegenden Mann, berührte ihn aber nicht, kauerte nur so da, sah hinab zu dem Toten, und er schien zutiefst erschüttert. Seinem trauernden Blick folgend, wurde Schwarzenbacher der ganzen Tragödie erst gewahr. Der Mann im Schnee war hochalpin gekleidet: Berganorak, Kletterhose, Bergstiefel mit Steigeisen dran – und ein Helm. Nur dass dieser Helm nicht mehr normal auf dem Kopf saß, sondern ihm über die Augen und bis zur Nasenwurzel ins Gesicht gedrückt worden war. Es sah aus, als hätte der Mann nur mehr einen halben Kopf. Dem zugehörigen Bericht konnte Schwarzenbacher den Unfallhergang entnehmen: Zwei Kletterer wollten in den Westalpen eine überaus schwierige Felstour machen. Doch sie kamen gar nicht bis zum Fels. Der Zustieg war lang und mühsam. Zuletzt mussten sie eine steile Eisrinne queren. Diese Rinne war berüchtigt. Nicht wegen ihrer Steilheit – damit konnten erfahrene Bergsteiger umgehen. Sie war gefährlich, weil immer wieder Steine und Eisbrocken durch das Couloir herabschossen. Die beiden Kletterer waren gewarnt.
»Sie haben nichts falsch gemacht«, sagte Walser zu Schwarzenbacher. »Ihr einziger Fehler, wenn man so will, war der, dass sie sich überhaupt für diese Tour entschieden hatten. Das Couloir ist Lotto – nur mit umgekehrten Vorzeichen: Die Chance, dass es dich trifft, ist riesengroß …«
Um schnell zu sein, die Gefahrenstelle in möglichst kurzer Zeit zu überwinden, waren sie seilfrei ins Couloir gequert. Als der Erste etwa in der Mitte der knapp sechzig Meter breiten, eisgefüllten Rinne angelangt war, polterte von oben ein Steinbrocken herunter. Er sprang immer wieder auf dem Eis auf, beschleunigte, schoss zwischen den Felsbegrenzungen hin und her – nur ein einzelner Brocken, nicht größer wohl als eine Faust – und traf dann den Kletterer an der Schulter. Er hatte keine Chance. Er verlor den Halt, fiel nach hinten aus der steilen Rinne und stürzte, halb gleitend, halb frei fallend, etwa zweihundertfünfzig Meter tief ab. Unten, wo die Rinne in flacherem Gelände seicht auslief, schlug er mit
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