Kalter Fels
belämmert«, sagte Schwarzenbacher. »Es ist ja noch nicht alles. Kripoarbeit hat normalerweise nichts mit Sherlock Holmes und irgendwelchen genialen Geistesblitzen zu tun. Die Hauptarbeit ist, zunächst all das auszuschließen, was noch den Blick versperrt. Du musst oft in die falsche Richtung denken, bis du erkennst, wo die Wahrheit liegt.«
Er sah der asiatisch anmutenden Küchenhelferin nach, die das leere Geschirr von ihrem Tisch nahm und wegbrachte.
»Ich hab komischerweise lange gebraucht, bis ich es kapiert habe, wahrscheinlich liegt es daran, dass mir diese verdammte Bergsteigerei so völlig fremd ist. Doch dann ist es mir wie Schuppen von den Augen gefallen: Mannhardt war nachweislich alleine aufgebrochen. Wäre er in Begleitung eines anderen Bergsteigers gewesen, hätte der ja gewusst, was passiert ist. Und hätte wohl auch die Bergung eingeleitet. Außer …«
»Außer was?«, fragte Pablo.
»Außer dieser Begleiter wäre der Täter gewesen. Was mir allerdings unwahrscheinlich erscheint. Denn in der Regel wird doch jemand wissen, wenn sein Mann, sein Sohn, sein Kumpel in die Berge geht, wen er da dabeihat. Und da würde es doch sehr verwundern, wenn dieser Begleiter wohlbehalten heimkehren würde, während der Angehörige erst Tage später gefunden wird. Nein, es muss sich um Alleingänger gehandelt haben. Ganz allein unterwegs. Und dann wahrscheinlich zufällig dem Mörder begegnet.«
Er schob Pablo, der staunend neben ihm saß, die Fotokopien zu.
»Und das ist das Ergebnis. Vier weitere Fälle, die so ähnlich erscheinen wie der Tod von Mannhardt. Vier Bergunfälle, die unter Umständen Morde gewesen sind. Einen davon kennen wir bereits aus dem Gespräch mit dieser Gehrig-Mannhardt. Die Chancen, dass es sich tatsächlich um Morde handelt, stehen fünfzig zu fünfzig.«
»Nicht besser?«, sagte Pablo.
»Mathematisch steht es fünfzig-fünfzig. Meine Intuition sagt: achtzig-zwanzig. Ich befürchte, dass Mannhardt und auch die vier anderen Männer erschlagen worden sind.«
»Und warum?«
»Warum ich das vermute? Ich kann es dir nicht genau sagen. Vielleicht ist es ja ein Irrweg. Aber wir sollten uns die Mühe machen, diesen Irrweg gegebenenfalls auszuschließen.«
»Ich meine«, sagte Pablo, »warum die Männer erschlagen worden sind.«
Schwarzenbacher rümpfte die Nase. Er schien durch die Fassade der Raststätte hindurchzuschauen, irgendwohin, zu einem undefinierbaren Punkt jenseits der Inntal-Autobahn.
»Keine Ahnung«, sagte er dann. »Ich glaube, sie haben einfach Pech gehabt.«
4
Die Einsamkeit war nicht das Problem. Ferdinand Senkhofer war immer einsam gewesen, solange er sich erinnern konnte, und es war ihm nie zum Problem geworden. Er konnte gut allein sein. Wochenlang, monatelang. Andere Menschen hatte er schon früher gemieden, hatte nicht gerne mit ihnen gesprochen. Er brauchte niemanden, mit dem er sprach. In den vielen Wintern völliger Weltabgeschiedenheit hatte er sich des letzten Restes Gesprächsbedarfs mit anderen vollkommen entwöhnt. Wenn er sprach, dann mit den Dohlen. Oder mit sich selbst. Meistens aber schwieg er.
Das Problem war der Schnee, war das Weiß um ihn herum, das das Grün aufgefressen und jeden Laut abgetötet hatte. Ferdinand mochte den Frühling, den Sommer. Auch noch den Herbst, wenngleich ihn da schon immer die Furcht vor dem Winter überkam. Im Sommer, da lebte er weltabgeschieden. Im Winter war die Alm wie ein Grab und er wie tot.
Er konnte das nicht mehr aushalten. Konnte einfach nicht mehr.
Ruhelos ging er in der Stube auf und ab. Groß war sie nicht, nur ein paar Schritte breit und ein paar Schritte lang. Er stapfte in löchrigen Wollstrümpfen von der Tür bis zur gegenüberliegenden Wand, wo eine steile Stiege zu einer winzigen Schlafkammer hinaufführte.
In der Almhütte stand der Qualm, der vom unablässig geheizten Herd aufstieg. Ferdinand war das egal. Es machte ihm schon lange nichts mehr aus. Die Holzbalken waren in über hundert Jahren geräuchert und verrußt worden. In all der Zeit, die Ferdinand hier nun schon hauste, war es ihm wie dem Holz ergangen: Im Sommer war seine Haut vom Wetter gegerbt worden, sein Gesicht war zerfurcht und zerfressen wie das Holz an der Außenseite der abgelegenen Alm. Im Winter, wenn er die Hütte kaum verließ und sich selten wusch, setzten sich in den Rufen und Falten seines Gesichts und seiner Hände der Ruß und der Dreck ab, zumindest dort, wo nicht alles von einem filzigen Bartwuchs überdeckt
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