Kalter Fels
Fachbuchhandlung Freytag & Berndt in der Wilhelm-Greil-Straße besorgten sich Marielle und Pablo alle möglichen Wanderkarten: Karwendel, Stubai, Rofan, Wilder Kaiser, Wettersteingebirge. In den Bergen meldete sich der Frühling. Auf sechzehnhundert Metern Höhe lag kaum mehr Schnee, nur in schattseitigen Mulden hatte er sich noch halten können. Es würde gar nicht mehr lange dauern und sie konnten sich daranmachen, die Unfallorte, die Schwarzenbacher recherchiert hatte, einer gründlichen Ortsbesichtigung zu unterziehen.
»Kaiserkarte hätte ich selbst eine«, sagte Pablo.
»Die ist aber schon so zerfleddert, dass sie sich bald in ihre Bestandteile auflöst«, gab Marielle zurück. »Pfeif drauf.«
Sie nahmen alle.
Zu Hause bei Pablo räumten sie die herumliegenden Klamotten vom Boden, saugten die Auslegeware – »Ist ja wirklich mal wieder fällig«, meinte Marielle – und breiteten die Karten so auf dem Boden aus, dass die gezeichneten Gebirgsgruppen auf dem Teppich zueinander lagen wie die Gebirge in der Realität.
»Die Ellmauer Halt und der Kopftörlgrat.« Marielle deutete auf die Karte des Kaisergebirges und erinnerte damit an eine gemeinsame Genusstour in diesem wild zerklüfteten Gebirge ganz im Osten Tirols. »Das war ein wunderschöner Tag«, sagte sie.
Pablo sah sie von der Seite her an, beobachtete, mit welcher Intensität sie die Karten studierte. Es war nicht nur Intensität – es war echte Begeisterung. Er kannte wenige Frauen, die mit einer Landkarte souverän umgehen konnten. Bei Marielle war das anders. Sie musste das freilich auch beherrschen, wenn sie Bergführerin werden wollte. Aber bei ihr war es eben noch mehr: Sie konnte sich begeistern an den Karten, in ihrem Kopf schien sich die gezeichnete Geographie in wahre Landschaft zu verwandeln. Und wie ihm selbst machte ihr das Kartenstudium jedes Mal Lust aufzubrechen: in die Berge oder auf eine Reise. Es war ihr ein geradezu sinnliches Vergnügen, über den Realitäten einer exakt vermessenen Karte die unexakten Realitäten der Natur heraufzubeschwören.
Wir sollten unbedingt mal in die Ausstellung in der Hofburg gehen, dachte er. Der Österreichische Alpenverein hatte sich dort einquartiert, und die Ausstellung »Berge, eine unverständliche Leidenschaft« galt allgemein als großartig inszeniert. Er hatte nur Gutes darüber gehört und gelesen. Aber dorthin geschafft hatten sie es immer noch nicht.
»Wenn es am Sonntag regnet, schauen wir uns die Alpenvereinsausstellung an. Was meinst?«, sagte Pablo.
»Können wir machen«, antwortete Marielle. »Aber lieber wär mir, es würde nicht regnen und wir könnten irgendwo raus. Eine Skitour im Frühjahrsfirn. Oder nach Zirl zum Klettern in die Klamm.«
»In Ordnung«, sagte Pablo. »So oder so.«
Dann konzentrierten sie sich wieder auf die Karten, schwelgten in ihren bergsteigerischen Erinnerungen – und lokalisierten die Unglücksorte, die vielleicht sogar kriminalistische Tatorte waren, so gut es ging.
Pablo markierte die Stellen mit einem leuchtend roten Selbstklebepunkt in der Größe eines Eincentstückes. Fünf Plätze, verstreut in den Gebirgen Tirols. Einer im Berglental oberhalb der Leutasch. Das war sozusagen der Ausgangspunkt der Ermittlungen von Schwarzenbacher und Dr. Reuss.
Ein Punkt im Sellrain, knapp neben dem schmalen Grat, der zum Gipfel des Pirchkogels führte. Ein weiterer im Rofangebirge, das sich östlich des Achensees erhob: am Ampmoosboden unter den einsamen und schwierigen Kletterwänden von Hochiss-, Seekarl- und Rofanspitze.
Der vierte Punkt klebte im Kaisergebirge. Dort war ein Toter im Griesner Kar gefunden worden. Es war im Spätwinter bei Tourenskifahrern beliebt, im Sommer aber nicht sehr stark frequentiert – ganz anders als die anderen Schluchten und Gipfel dieses Gebirges. Da waren die Hütten immer übervoll, und beim Klettern musste man sich oft am Einstieg einer Tour in eine Warteschlange einreihen.
Blieb noch Punkt Nummer fünf: Er war in der Südflanke der Lamsenspitze platziert. Ein langer, einsamer Aufstieg – im Juli oder August eine Tortur, weil die Sonne den ganzen Tag in diese karge Bergflanke hineinbrannte und nirgends auch nur der Hauch von Schatten zu finden war.
Fünf Tote, fünf Orte, fünf verschiedene Gebirgsgruppen.
»Welche Fälle haben was mit den Vermutungen von Frau Gehrig-Mannhardt zu tun?«, fragte Marielle.
»Irgendwie alle und keiner. Schwarzenbacher sieht ihre Vermutungen bisweilen bestätigt, dann aber
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