Kalter Fels
Pablo wollten jetzt eine Unterbrechung des Gesprächs. Sie wollten mehr hören und weiterkommen in der Sache.
»Erzähl erst zu Ende«, sagte Marielle. »Danach hol ich dir einen Kaffee.«
Schwarzenbacher lächelte. Er mochte das Mädchen, seit er es zum ersten Mal persönlich gesehen hatte. Das war in der Innsbrucker Uniklinik gewesen, wo sie sich mühsam von den Nachwirkungen der Tragödie an der Schattenwand erholt hatte.
Er erinnerte sich gut.
Bei Filmarbeiten mit einem Strafgefangenen war die Situation außer Kontrolle geraten. Der junge Mann, Konrad Krupp hieß er, hatte Marielle auf einer Berghütte als Geisel genommen. In einem fürchterlichen Wettersturz hätte sie ihn ins nächste Tal führen sollen. Es war für beide zum Kampf auf Leben und Tod geworden.
Danach war Marielle wochenlang im Krankenhaus gelegen. Die psychischen Verletzungen waren deutlich schwerer gewesen als die körperlichen Blessuren. Monatelang war sie nicht mehr in die Berge gegangen. Lange hatte sie geglaubt, nie wieder bergsteigen oder klettern zu wollen. Aber sie hatte nach und nach wieder zu sich gefunden.
Schwarzenbacher, der vor ein paar Jahren wegen seiner MS-Erkrankung aus dem Polizeidienst hatte ausscheiden müssen, hatte die tragischen Ereignisse am Fernseher und in den Zeitungen verfolgt. Und er hatte einen gewaltigen Respekt vor der jungen Frau gewonnen.
Aber in den Respekt hatten sich Zweifel gemischt, die bis heute nicht ausgeräumt waren. Schwarzenbacher trug die Frage mit sich herum, wie Marielle sich hatte befreien können. Dabei ging es ihm weniger um die Antwort, weniger darum, die ganze Wahrheit zu erfahren. Eigentlich wollte er nur, dass sie sich selbst bewusst machte, was geschehen war. Und dass sie damit klarkam, damals und dann ihr weiteres Leben lang.
Er war ja kein Bulle mehr.
Er mochte sie. Ihre burschikose Erscheinung, die nicht immer, aber oft warmherzigen Augen, ihre Neugier, ihre Tatkraft und Energie, die ihr das Überleben gesichert hatten.
Wenn ich fünfundzwanzig Jahre alt und wenn ich kein Krüppel im Rollstuhl wäre, hatte er schon einige Male gedacht, würde ich dieses Mädchen haben wollen. Mit Haut und Haar.
Doch er war Manns genug, solche Anflüge von romantisierender Gymnasiastenerotik aus seinem Kopf und seinem Herzen zu verscheuchen – und Marielle als das zu akzeptieren, was sie war: eine sympathische junge Frau, nicht seine Altersklasse, nicht seine Liga, aber auf dem besten Weg, ihm eine Freundin und Vertraute zu werden.
»Ich möchte, dass ihr euch die Tatorte anschaut«, sagte er. »Macht euch ein Bild von der Gesamtsituation. Wie ist der jeweilige Ort beschaffen? Wie die Gegend ringsherum? Wie logisch ist es, dass da jemand durch Steinschlag ums Leben kommt?«
»Das wurde auch damals schon überprüft«, warf Pablo ein.
»Richtig«, sagte Schwarzenbacher. »Wurde es. Nur mit dem Unterschied, dass ihr davon ausgeht, dass dort Morde passiert sind. Die Bergrettung aber ist von Unfällen ausgegangen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sich Gendarmerie und Staatsanwaltschaft schnell dieser Meinung angeschlossen haben. Es ist einfach naheliegend. Ihr seht das jetzt mit anderen Augen. Ich wäre gern dabei, würde mir am liebsten selbst einen Eindruck verschaffen von den jeweiligen Örtlichkeiten. Geht nicht. Also müsst ihr das tun. Macht Fotos. Filmt alles. Reuss kann euch eine Digicam mitgeben. Macht Notizen. Und vor allem: Macht euch Gedanken. Und bringt mir einen Espresso. Bitte.«
Pablo sah Marielle an und dann wieder Schwarzenbacher.
»Es gibt da ein Problem«, sagte er dann. »So wie ich das sehe, sind im Moment noch alle Tatorte unzugänglich. Schnee, Lawinengefahr …«
»Und wie lange wird das noch dauern?«, fragte Schwarzenbacher.
Marielle gab die Antwort: »Wie die Schneelage in den Tiroler Bergen zurzeit ist, würde ich sagen: Da geht nichts vor Ende Mai. Frühestens.«
»Scheiße«, sagte Schwarzenbacher. »Das ist wirklich scheiße.«
* * *
Abends um sechs standen Sterne am Himmel. Der Tag war kalt gewesen. Die Nacht war eisig und klar.
Ferdinand trat nackt vor die Hütte und rieb sich von oben bis unten mit Schnee ab. Er stank danach kaum weniger, aber es weckte seine Lebensgeister.
Sein Schlaf war unruhig gewesen. Und doch war ihm, als hätten sich im Hin-und-her-Wälzen auf seinem muffigen Lager die wirren Gedanken geklärt, als wäre Licht in den Nebel seines Denkens gekommen. Als er um vier am Nachmittag erwacht war, hatte er den
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