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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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»Schüler-Rechen-Duden« hatte schon seinem Vater gehört, war an ihn weitergegeben worden, ohne viel benutzt zu werden oder gar zu merklichen Verbesserungen in Pablos Kenntnissen zu führen.
    »Manche Dinge sind wie Efeu«, sagte er grinsend, als er das waldgrüne Buch aus dem Fach zog. »Die halten sich beharrlich, egal was rundherum passiert.«
    Und in diesem »Schüler-Rechen-Duden«, der schon über vierzig Jahre auf dem Buchrücken hatte, fanden sie dann auch, was es an Wesentlichem zu Marielles sonderbarem Viereck zu sagen gab:
    »Die ungleichwinkligen Drachenvierecke sind schiefsymmetrisch zu einer ihrer Diagonalen (Abb. 245 b).«
    »Ist ja toll.« Marielle rümpfte die Nase. »Das würde mich nicht schlauer machen als zuvor. Aber wenigstens zeigt die Abbildung, dass unser geometrisches Konstrukt ein ›ungleichwinkliges Drachenviereck‹ ist. Jetzt müssten wir nur noch genau anlegen, wo sich das auf den Karten befindet. Denn von dort aus hätte es ein möglicher Täter zu allen Tatorten ungefähr gleich weit.«
    »Schöne Theorie«, sagte Pablo. »Aber im dicht besiedelten Tirol leben in deinem Drachenviereck viele tausend Menschen. Wenn wir Pech haben, zigtausende oder sogar über hunderttausend. Also das bringt uns nicht wirklich weiter. Und überhaupt …«
    Marielle sah ihn skeptisch an.
    »Und überhaupt: Genauso gut könnte ein möglicher Täter jedes Mal angereist sein. Aus München zum Beispiel. Oder aus Salzburg. Auch aus Bozen oder Verona. Dabei setzen wir voraus, dass es sich immer um ein und dieselbe Person handelt. Was, wenn es verschiedene waren?«
    Marielle schüttelte den Kopf, fasste sich dann an die Schläfen, versuchte, ihre Gedanken durch einen Filter zu pressen. Aber das Einzige, was sie nach einer Minute höchst angestrengten Nachdenkens sagen konnte, war: »Verdammter Mist. Ich bin kein Bulle. Ich kapier so was nicht. Und du doch auch nicht, oder?«
    * * *
     
    Die Nacht war verstrichen. Ferdinand war nicht nach draußen gegangen. Er hatte sich im Dunkel der Hütte aufgehalten, nur zwischen den Herdringen war ein kaum wahrnehmbarer Lichtschimmer, hervorgerufen durch die niedrig gehaltene Flamme im Holzofen, in die Finsternis gedrungen. Ferdinand trug einen schweren Kampf mit sich aus: Sollte er die Hütte verlassen, den Abstieg wagen, sein Leben riskieren – und zudem noch Hedwigs Anordnung zuwiderhandeln? Sollte er das tun?
    Oder sollte er hierbleiben? So wie sie es ihm angeschafft hätte? So wie all die vielen Jahre, all die vielen Winter, deren genaue Zahl er gar nicht wusste.
    Jetzt war der Morgen da, es würde ein schöner Tag werden; und so fiel das kraftvolle Licht durch die verrußten Scheiben in seine spartanische, unsaubere, stinkende Behausung.
    Es war für Ferdinand an der Zeit, sich hinzulegen. Er brauchte den Schlaf, damit seine Nerven sich beruhigen und seine verflochtenen Gedanken sich entwirren konnten. Doch auch ohne diese besondere Situation war er seit Langem daran gewöhnt, im Winter tagsüber zu schlafen und nachts wach zu sein. Wo er doch nicht hinausgehen sollte vor die Hütte, nicht bei Tag, wo ihn jemand hätte sehen können.
    Nachts ging er manchmal raus. Am Tag blieb er in der Alm. Es war nicht so schwer, diese Tage zu verschlafen – es wurde erst spät hell und früh wieder dunkel.
    Manchmal wünschte er sich, lesen zu können.
    Er legte sich auf sein Lager: ein ranzig riechendes Kopfkissen, ein gelbfleckiges Laken, darüber ein schweres Federbettzeug, das nach der Ausdünstung eines Mannes stank, der sich oft zwei Wochen lang nicht wusch und die Kleider nicht wechselte.
    Er legte sich hin, fand aber lange keinen Schlaf. Seine Gedanken kamen nicht zur Ruhe. Und in die Überlegungen, die sein Hirn nur so herumrührten, mischten sich Bilder, die ihn noch zusätzlich quälten: rote Steine, blutige Steine, das Rot wie auf den Markierungen der Wanderwege, ja, genau so und doch anders. Momentaufnahmen, wie sie ihn heimsuchten, wenn er sich in großer innerer Erregung befand.
    Sein Gehör war dann ganz empfindlich: hörte das Rascheln von Mäusen in der Hütte, hörte, dass Dohlen auf dem Dach herumhüpften, hörte das leiseste Knarzen im Gebälk. Es hörte eine Fliege, die irgendwie den Winter überlebte, hörte den Wind, der ganz sanft über die tiefverschneiten Bergflanken strich, hörte den Pulsschlag im Kopf. Wäre jemand zu ihm heraufgekommen – was doch unmöglich war, das wusste er –, er hätte die Schritte schon eine halbe Stunde eher

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