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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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Entschluss gefasst. Er würde absteigen ins Tal. In dieser Nacht würde er sich auf den beschwerlichen Weg machen.
    In der Hütte zog er sich warm an: die lange Unterhose mit den vielen Löchern, ein Unterhemd, das auch viele Löcher hatte. Zwei Pullover, eine dicke Arbeitshose. Dazu einen Anorak, der ihm trotz der beiden Pullover noch immer zu groß war. Als Kopfbedeckung nahm er eine Russenmütze mit fellgefütterten Ohrenlappen. Stiefel hatte er. Das Problem waren die Strümpfe. Sie waren ihm in den langen Wintermonaten zerrissen und zum Teil geradezu von den Füßen gefault. Doch das wusste er: Ohne Strümpfe würden seine Füße erfrieren, sobald er länger als eine Stunde draußen wäre. Er überlegte lange, fand keine Lösung. Schon befiel ihn wieder eine kribbelnde Unruhe, schon begann er, auf den Resten seiner letzten Strümpfe in der Hütte auf und ab zu gehen.
    Da fiel ihm ein, was er tun konnte. Mit einem Messer schnitt er breite Streifen von seinem Bettlaken ab. Diese Streifen band er sich um die Füße und die Knöchel bis zur Hälfte der Waden hinauf. Jetzt hatte er Strümpfe. Jetzt konnte er in die Stiefel steigen. Die Stiefel waren alt und schwer, aber auch dick und warm. Gamaschen wären gut gewesen, aber es gab hier keine. Ski wären gut gewesen, denn der Schnee lag hoch. Aber er hätte ohnehin nicht fahren können. Er hatte es nie gelernt.
    Es musste so gehen, ohne Gamaschen, ohne Ski.
    Eine der langen Holzstangen, die am Plafond der Hütte befestigt waren und schon für alles Mögliche gedient hatten, zum Viehtreiben zum Beispiel, nahm er sich und prüfte sie. Fest war sie, stabil, fast so hoch wie er. Und sie lag gut in der Hand.
    In den braunen, birnenförmigen Jägerrucksack packte er etwas von den schier unendlichen Vorräten an Schüttelbrot, die Hedwig in Blechdosen auf der Hütte deponiert hatte. Außerdem einen Ranken Speck, trocken und schon kaum mehr zu beißen, aber nahrhaft genug für den Abstieg. Zuletzt holte er sich eine Zitrone aus dem eiskalten Vorratsraum, zu dem eine Klappe im Boden führte. Hier, in der Kälte, hatten sie sich über Monate gehalten, waren braun geworden, hatten sich zusammengezogen, waren hässlich und wirkten verdorben – doch wenn Ferdinand das Messer durch die harte Schale führte, dann kam immer noch üppig saurer Saft heraus.
    Alle paar Tage eine halbe Zitrone zu essen, das hatte ihm Hedwig aufgetragen. Und er hatte diese Regel befolgt, auch wenn ihm der Saft eigentlich zu sauer war. So sauer, dass es ihm das Gesicht verzog.
    Für den Abstieg nahm er eine ganze Zitrone mit. Weil sie Kraft machte. Hedwig hatte das gesagt. Und Kraft würde er brauchen.
    Er trank einen Becher heißes Wasser aus dem Ofengrandl, dann kippte er kalte Asche auf die Glut im Herd. Zu trinken nahm er sich nichts mit; unterwegs würde er im Mund Schnee schmelzen – davon gab es mehr als genug.
    Die Fensterläden schloss er und legte die schweren Riegel vor. Es war zwar nicht anzunehmen, dass irgendwer zur Hütte käme, aber es war eine Gewohnheit, beim Verlassen der Alm für länger alles dichtzumachen. Er verriegelte die Tür, steckte den Schlüssel in die linke Hosentasche, von der er wusste, dass sie kein Loch hatte, und dann begann er mit dem Abstieg.
    Es war ein langer, langer Weg. Im Sommer brauchte man als guter Geher dreieinhalb bis vier Stunden hinunter nach Scharnitz. Jetzt aber, im Winter, weglos im tiefen Schnee, würde es wahrscheinlich die dreifache Zeit dauern. Oder er würde verrecken – im Schnee ersticken oder erschöpft einschlafen und nie mehr aufwachen.
    Doch sein Entschluss stand fest, und er würde sich durch nichts davon abbringen lassen.
    Beim ersten Schritt, den er jenseits der unmittelbaren Umgebung der Hütte tat, versank er fast bis an die Hüften im Schnee.
    Schon da ahnte Ferdinand, dass es ein Kampf auf Leben und Tod werden würde.

5
     
    »Du kannst es mir glauben oder nicht«, sagte Schwarzenbacher zu Jakob Hosp, dem er in dessen Büro bei der Bundespolizei, Kaiserstraße, Innsbruck, gegenübersaß. »Es geht nicht darum, irgendjemandem ans Bein zu pissen. Weder den Kollegen noch der Staatsanwaltschaft.«
    Hosp rieb sich das Kinn. Er wusste, welch fähiger Beamter Schwarzenbacher gewesen war. Ein Überflieger, der es aufgrund besonderer Talente binnen weniger Jahre zum Top-Mann der Kripo in Tirol gebracht hatte. Seinen Namen hatte man auch im fernen Wien gekannt. Paul Schwarzenbacher!
    Und dann: alles vorbei. Krank. Ohne jede Aussicht auf

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