Kalter Fels
Anstrengung am ganzen Körper schweißnass. Er quälte sich zu Tal.
Die Hütte, auf der er die Wintermonate in völliger Abgeschiedenheit und Einsamkeit zubrachte, lag viele Kilometer tief im Gebirge. Im Sommer führte ein Forstweg an einem der Karwendelbäche entlang – stundenlang wanderten die Bergsteiger auf diesem Weg talein, und die Mountainbiker plagten sich im Anstieg und genossen zurück die ungebremste Fahrt. Weit im Inneren des Karwendelgebirges zweigte nach links ein kaum wahrnehmbarer Steig ab. Der führte in Serpentinen durch immer lichter werdenden Wald. Irgendwann gab es nur noch vereinzelte, besonders zähe Bäume: Kiefern, die von Wind und Wetter in ihren Stämmen verdreht und verbogen waren. Nach Osten gebeugt standen die Bäume, knorrig, uralten Menschen in Haltung und Kerbung nicht unähnlich.
Den Steig hinauf zur Alm, die oberhalb der Baumgrenze in einer verborgenen Geländesenke lag, kannten nur wenige. Selten, dass jemand hinaufstieg zur Hütte, umgeben von so karger Gebirgslandschaft, dass nur mehr Schafe und Ziegen hier ihr Auskommen finden konnten. Die Bergspitzen oberhalb der Alm waren keine bekannten oder bergsteigerisch besonders lohnenden Ziele – außer es war jemand ein Einsamkeitsfanatiker und wollte sich zurückziehen in ein fast völliges Alleinsein.
Ferdinand war ans völlige Alleinsein gewöhnt. Doch hatte er sich lange nicht mehr so allein, ja, verloren gefühlt wie in dieser nächtlichen Schneelandschaft. Er war seit vier Stunden unterwegs, und es war noch nicht lange her, dass er das Gebirgstal erreicht hatte, wo im Sommer der Bach plätscherte und sich die Mountainbiker, die Wanderer, die Bergsteiger den Forstweg teilten.
Jetzt war nichts mehr da: kein Weg, kein Bach, nur tiefer Schnee, der alles verhüllte. Es war mitten in der Nacht, und doch konnte Ferdinand weit sehen. Hier, wo der Wald entlang dem Talboden ausgedünnt war, reichte das Licht der Sterne völlig. Der Schnee reflektierte es, so entstand ein Schimmer, der es leicht machte, sich zu orientieren.
Wie war dieses Licht in der Nacht schön! Schön und geheimnisvoll und zugleich befremdlich. Und es verstärkte bei Ferdinand das Gefühl der Todesgefahr, die auf seinem verschneiten Weg auf ihn lauerte.
Die Hosenbeine waren nass, schneeverklebt, stellenweise schon wieder hart gefroren. Aber ihm war nicht kalt. In den Stiefeln schmolz der oben einfallende Schnee zu Eiswasser. Aber er wusste, dass er das aushalten konnte, solange er sich nur bewegte. Doch wie lange würden seine Kräfte reichen?
Jeder Meter war ein Kampf. Ferdinand versank im Schnee, wühlte sich wieder heraus, die Ärmel nass, die Hände eisig, die Muskeln in den Beinen schmerzten, und vor lauter Anstrengung begann es in seinem Kopf zu rauschen. Wieder sank er ein und wieder, immer wieder kämpfte er sich aus dem Schnee.
Es gab nichts Schöneres, als über einen Lawinenkegel steigen zu können: Dort, wo aus den Bergflanken Lawinen zu Tal gedonnert waren, gestern oder vor ein paar Tagen, war der Schnee von der Wucht der Massen hart gepresst. Dann musste Ferdinand zwar hinaufklettern auf so einen Wall aus Schnee und mitgerissenen Bäumen und Fels und Dreck, aber dort oben war es fest, er konnte aufrecht gehen, sank die nächsten fünfzig oder hundert Meter nicht mehr ein. Das gab ihm ein Gefühl von Glückseligkeit. Er marschierte über den Lawinenschnee, konnte durchatmen, konnte einen Fuß vor den anderen setzen, ohne zu versinken – und war voll Hoffnung, dass es von jetzt an so weiterginge.
Dass sich in dieser Nacht Lawinen lösen könnten, hoch über ihm, binnen Sekunden ins Tal rasen und ihn verschütten würden, davor hatte Ferdinand keine Angst. Er verschwendete keinen Gedanken darauf. Seit er sich zum Verlassen seines Verstecks durchgerungen hatte, war ihm die Angst abhandengekommen: Er spürte die Kälte, den Schmerz in Händen und Füßen, und er wusste, dass die Chance, bei diesem Abstieg zu sterben, groß war. Aber Angst? Er hatte keine.
Es mochten sechs oder acht Stunden vergangen sein, seit er aufgebrochen war, und seine Kräfte drohten zu Ende zu gehen. Er wusste, dass er eine Rast brauchte. Und dass er etwas zu sich nehmen musste. Doch wusste er auch, dass eine Rast in seinen nassen, halb gefrorenen Sachen fürchterliche Folgen haben könnte. Er brauchte einen Unterschlupf.
Er wand sich aus den Ledergurten des alten Rucksacks, kramte die Zitrone heraus und biss einfach in sie hinein. Gierig saugte er den Saft aus der
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