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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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war noch immer ohne Ziel.
    Für die Touristen war das Goldene Dachl der Mittelpunkt von Innsbruck, für viele Einheimische dagegen war das eigentliche Zentrum das Café Central an der Ecke Erler/Gilmstraße. Marielle zog ihre Geldbörse aus der Tasche und sah nach, wie viel Geld sie dabeihatte. Elf Euro zehn, das war nicht viel, aber sie bekam sicher ein Glas Orangensaft und ein Stück Kuchen dafür.
    Das Central war, wie eigentlich immer, gut besucht. An zahlreichen kleinen und noch kleineren Tischen saßen die Leute beieinander, manche kannte Marielle vom Sehen, einen Schauspieler vom Landestheater zum Beispiel; ganz hinten rechts im Eck saß eine Mitstudentin mit einem deutlich älteren Mann, vielleicht ihr Vater, es konnte aber genauso gut ein ziemlich alter Lover sein. Egal, Marielle war nicht in der Stimmung, sie um einen alten Sack zu beneiden.
    Sie fand einen freien Zweiertisch, stellte ihre Tasche ab und holte sich die »Tiroler Tageszeitung«, die im hölzernen Halter am exquisiten Zeitungs- und Zeitschriftenständer hing. Ein Ober mit schwarzer Weste und roter Krawatte nahm ihre Bestellung auf – »Mögst du eine Aschebecher?«, fragte er mit böhmischem Akzent; dann las sie Zeitung und trank in kleinen Schlucken und aß in kleinen Bissen ganz nebenbei.
    Sie suchte Ablenkung, wollte ein wenig durch die Kultur blättern, durchs geraffte Weltgeschehen und, mit ein klein wenig Voyeurismus, durchs Lokale: die großen und kleinen Tragödien ringsherum in Tirol.
    Einen Moment lang dachte sie, dass sie von außen gesehen komisch wirken müsse: sie, allein an ihrem Tisch, die schlechte Laune hinter der großen Zeitung verborgen. Rundherum das Getuschle und Gelächter der Leute, dazwischen die livrierten Ober und über allem der hohe Saal mit seinen dunklen Marmorsäulen, mit den gewaltigen Kronleuchtern und der üppigen Stuckverzierung – ein Café aus einer anderen Zeit, einer anderen Welt.
    Marielle konzentrierte sich wieder auf ihre Zeitung – und blieb an einer nicht allzu großen Meldung hängen. »Berghütte im Karwendel aufgebrochen« lautete die Überschrift. So etwas kam immer wieder mal vor und hätte ihre Aufmerksamkeit nicht weiter erregt, wäre das nicht ausgerechnet im Karwendel geschehen. Einem der Gebirge, mit denen sie sich zu befassen hatte bei den Recherchen zu den Steinschlag-Fällen.
    Sie las den Artikel, betrachtete das Bild, das eine Alm- oder Jagdhütte zeigte, las den Artikel ein zweites Mal und hatte plötzlich das tiefe Gefühl, auf etwas gestoßen zu sein. Sie fragte sich, wo dieses Empfinden herrührte. Dann wurde es ihr bewusst. Es war ihr, als stünde da ein Satz besonders fett gedruckt oder dreifach unterstrichen.
    Sie holte das Handy heraus und rief Schwarzenbacher an.
    »Hast du die TT heute gelesen?«, fragte sie.
    Er verneinte. »Ich les schon lang nicht mehr jeden Tag Zeitung. Und wenn, dann nicht immer die gleiche. Standard, Presse, auch mal die Krone, wenn mir danach ist. Warum? Gibt es etwas Besonderes?«
    »Ich würde schon sagen. Hast du eine halbe Stunde Zeit? Ich würde dich gern treffen.«
    »Wie du eigentlich wissen solltest, habe ich meistens Zeit. Was hältst du davon, um vier im ›Pavillon‹ beim Theater?«
    »Einverstanden«, sagte Marielle. »Einverstanden.«
    »Warte«, sagte Schwarzenbacher. »Vielleicht wäre es besser, sich gleich bei Reuss zu treffen.«
    »Auch recht«, sagte Marielle.
    Sie aß ihren Kuchen auf, bezahlte bei einem der ältlichen Ober, die wirklich aus einer fernen Zeit zu kommen schienen, verließ das Café Central und kaufte sich in der nächsten Trafik eine »Tiroler Tageszeitung«.
    Alles bis auf den Teil mit den Tiroler Lokalnachrichten warf sie in einen Papierkorb.
    * * *
     
    »Du musst fort«, sagte Hedwig und stellte schwer atmend ihre Einkaufstaschen in der Küche ab. »Es geht nicht mehr länger. So schnell wie möglich musst du fort.«
    Ferdinand schaute sie entgeistert an. Er hatte alle ihre Anweisungen befolgt, hatte das Haus tagsüber nie verlassen und auch nachts nur, um hin und wieder im Schatten des Vordaches ein paar Atemzüge frische Luft abzubekommen. Was konnte geschehen sein?
    Hedwig ließ sich, noch im Mantel, auf den Stuhl fallen. Die Schuhe hatte sie anbehalten, was im Haus sehr ungewöhnlich war. »Es geht wirklich nicht mehr«, sagte sie. Ihre Stimme war kraftlos.
    Ferdinand wusste nicht, was er sagen sollte. Irgendetwas geriet aus dem Gleichgewicht. So wie jetzt hatte er Hedwig nicht mehr erlebt seit

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