Kalter Fels
damals, als das Ganze passiert war und sie davon erfahren hatte. Er setzte sich nicht zu ihr an den Tisch, sondern blieb stehen, lehnte sich mit hinter den Rücken gelegten Armen an die Wand. Seine Finger spielten unruhig miteinander. Er wartete. Hedwig würde ihm alles erklären. Sie würde wie immer wissen, was zu tun war.
Sie sah zu ihm auf. Sah ihn nur an und schüttelte den Kopf. Aber sie sagte noch immer nichts. So war sie auch damals dagesessen, im selben Haus, vielleicht sogar auf demselben Stuhl, nur dass sie damals auch noch geweint hatte, bitterlich, und wenn sie nicht geweint hatte, dann hatte sie ihn angeschrien.
Ferdinand fürchtete sich vor dem, was als Nächstes kommen würde. Er hatte Angst, dass sie wieder zu weinen anfangen würde. Und zu schreien.
Aber Hedwig schien auf einmal gar keine Kraft mehr zu haben. Wie sie so am Tisch saß, wirkte sie alt und verbraucht, erschöpft von den Jahrzehnten des Versteckens, nicht mehr in der Lage, das alles noch weiter durchzustehen.
Als sie dann endlich sprach, wirkte ihre Stimme ermattet, müde, unendlich müde. Und zugleich lag Angst in ihrem Klang.
»Du musst fort«, sagte sie. »Du musst fort … es geht so nicht mehr … bestimmt haben die Leut in den Läden längst bemerkt, dass ich seit Wochen doppelt so viel einkauf, wie ich eigentlich brauch. Und dass ich alle Tricks anwende, damit nur ja niemand etwas auffällt … aber die sind ja nicht ganz blöd … und jetzt kommt alles zusammen; heut steht in der Zeitung, dass die Huchenhütte aufgebrochen worden ist. Das allein wär aber nicht schlimm, kein Mensch könnte das mit meinem Bruder in Verbindung bringen, der seit ewigen Zeiten in Australien lebt … das wär nicht das Schlimmste …«
Sie holte ein zerknülltes Papiertaschentuch aus der Manteltasche und schnäuzte sich.
»Das Schlimmste ist«, fuhr sie dann fort, »dass mich die Grasberger angesprochen hat.«
»Wer ist das? Die Grasberger?«
»Die wohnt schon ewig hier. Hinter der Tankstelle. Du müsstest dich eigentlich an sie erinnern können. Früher war sie mit dem Kurti zusammen, der die Post austragen hat. Aber der ist ihr natürlich irgendwann davon …«
»Und was ist mit derer Grasberger? Was tut sie uns?«, fragte Ferdinand. »Ich weiß eh nicht mehr, wer die ist.«
»Ob du es weißt, ist auch scheißegal!« Hedwigs Verzweiflung schlug in Wut um. Wut darüber, dass ihr Bruder ihr Leben zerstört hatte. Dass die Geschichte von damals nicht aufhörte, nie, nie, nie! Und dass sie immer wieder vor neue Prüfungen gestellt wurde. Prüfungen, die kein Mensch aushalten konnte. Nur sie musste das aushalten.
»Was hab ich nur verbrochen«, sagte sie laut, »dass ich dich am Hals haben muss! Kann mir das ein Mensch sagen? Kann mir ein Mensch sagen, warum ausgerechnet ich so ein Leben führe? Ein Leben wie im Gefängnis?«
»Ich hab alles getan, was du gesagt hast«, versuchte Ferdinand ihre Wut zu dämpfen.
»Wenn du alles getan hättest, dann hätte mich die Grasberger heute nicht angesprochen. Weiß du, was sie gesagt hat? Sie hat mich gefragt, ob mein Bruder wieder da sei. Und dass du doch so lange weg gewesen wärst.«
»Ich hab alles gemacht …«, stammelte er.
»Ja, ja, ja!«, schrie sie. »Du kannst natürlich nichts dafür! Wie immer kannst du nichts dafür! Immer sind die anderen schuld. Oder es sind die Umstände … nur du nicht! Weißt du, wann dich die Grasberger gesehen hat? Sie hat dich gesehen, als du draußen vor dem Haus gestanden bist, nachts. Du gehst oft nachts raus, ich weiß es …«
»Wegen der Luft, atmen.«
»Red doch keinen Scheißdreck. Rauchen tust draußen. Weil du herinnen nicht rauchen darfst. Und ich Idiot hab dir die Zigaretten auch noch besorgt. Bin bis nach Mittenwald, wo mich kaum wer kennt, und hab eine ganze Stange Marlboro gekauft. Wenn ich das hier gemacht hätt … ja, mei, da hätten sich die Leut das Maul zerrissen, hätten gesagt, jetzt fangt die Senkhoferin noch zu rauchen an und grad wie: kauft die Tschicks gleich stangenweis. Oder sie hätten gesagt, dass ich einen Heimlichen hab, einen, der wo nur in der Nacht zu mir reinkommt … Für den kauft sie die Zigaretten, hätten sie gesagt, für jedes Mal, wo er’s ihr macht, darf er ein Zigaretterl rauchen. Ja, so hätten sie geredet, da kannst dich drauf verlassen. Aber es ist ja mein depperter Bruder, der rauchen muss, und wenn er an der Zigarette zieht, dann fangt die Glut zum Leuchten an, und man kann sein Gesicht auf hundert
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