Kalter Fels
Haushalt Marielle/Pablo kam es ziemlich schlimm. Pablo war schon am Morgen mit einem dumpfen Kopf erwacht; im Lauf des Vormittags waren aus diesem undefinierbaren Gefühl Schmerzen geworden, und die hatten sich von Stunde zu Stunde gesteigert. Mittags hatte er sich bereits so elend gefühlt, dass er weitere Vorlesungen ausfallen ließ und nach Hause geradelt war. Er hatte zwei Ibuprofen mit viel Wasser eingenommen und sich ins Bett gelegt. Er war zwar bald eingeschlafen, aber dieser Schlaf war unruhig gewesen, und es plagten ihn qualvolle Träume, die so chaotisch waren, dass er sie später nicht mehr hätte erzählen können. Immerhin war er froh, dass ihn die Steinschlag-Morde, mit denen er sich in den letzten Wochen gedanklich intensiv beschäftigt hatte, nicht auch noch in den Träumen heimsuchten.
Marielle war da schon besser dran. Zwar hatte sich der heftige Föhn auf ihre Laune geschlagen, aber wenigstens hatte sie keine Kopfschmerzen. Sie war einfach gereizt vom Morgen an, war mit dem sprichwörtlich falschen Fuß aufgestanden. Widerwillig ging sie in die erste Vorlesung über Organisieren als sozialen Prozess, unwirsch reagierte sie auf ihre Kommilitonen, das Mittagessen in der Mensa schmeckte ihr nicht, und sie wünschte sich nichts mehr, als dass dieser Tag endlich zu Ende ginge. Wer auch nur über ein bisschen Fingerspitzengefühl verfügte, ging ihr heute geflissentlich aus dem Weg.
Am Nachmittag aber schlich sich ein anderes Gefühl in ihre Stimmungslage. Sie saß gelangweilt im Hörsaal, schenkte dem Dozenten nur geringe Aufmerksamkeit, das ganze Thema konnte sie heute nicht interessieren, und träumte sich zurück zum Jahresbeginn, wo sie die Nacht mit Pablo in den Calanques verbracht hatte. Was für eine Nacht das doch gewesen war, nackt im Schlafsack, der leichte milde Wind, das ferne Rauschen des Meeres, der Sternenhimmel. Als Pablo auf ihr lag und sie sanft und begierig zugleich liebte, hatte sie abwechselnd in seine in der Dunkelheit schwach leuchtenden Augen und in den glitzernden Sternenhimmel geschaut. Und als sie gekommen war … sie erinnerte sich an den Orion, eines der wenigen Sternbilder, die ihr so vertraut waren, dass sie sie überall auf den ersten Blick erkannte … und jetzt, hier im Hörsaal, befiel sie urplötzlich ungeheure Lust auf Sex. Es musste nicht im Schlafsack und auch nicht unter freiem Himmel sein, Orion war als Zutat nicht dringend erforderlich, nur Pablo brauchte sie jetzt.
Sie packte mitten in den Ausführungen des Dozenten ihre Sachen zusammen und mühte sich durch die engen Reihen. Auf dem Flur holte sie das Handy aus ihrer Umhängetasche und schaltete es ein. Sie wählte Pablo an, bekam aber nur die Maschinen-Antwort, dass der Teilnehmer »zurzeit leider nicht erreichbar« war.
Sie ging in die Mensa, trank einen Cappuccino, fühlte sich noch immer genauso gierig wie zuvor und beschloss, nach Hause zu gehen, ein Bad zu nehmen und dann nackt und »gut vorgeglüht«, wie Pablo das nannte, unter der Bettdecke auf ihn zu warten.
Lass dir nur nicht zu lange Zeit, dachte sie, sonst mach ich’s mir selber, bis du kommst.
Ihre schlechte Laune verflüchtigte sich, sie fühlte sich jetzt vom warmen Föhn nach Hause getragen wie auf einem fliegenden Teppich, es war lange her, dass sie ein derart intensives sexuelles Begehren verspürt hatte.
Doch als sie zu Hause ankam, sackte ihre Stimmung fast so schnell in den Keller wie ein abstürzender Fahrstuhl. Pablo lag mit Kopfschmerzen flach und wollte nur seine Ruhe.
Marielle brachte nicht einmal einen Hauch von Mitleid für ihn auf. Eine Stimme in ihrem Kopf sagte ihr, dass er nichts, aber schon überhaupt gar nichts dafürkonnte. Aber da gab es eine zweite Stimme, die saß irgendwo tief im Bauch, wahrscheinlich sogar noch tiefer, und diese zweite Stimme fluchte und sagte ihr, sie solle jetzt hier nicht die Krankenschwester spielen, sondern rausgehen, sich einen guten Tag machen, es gebe ja noch andere Männer und gewiss einige, die man nicht anbetteln müsste.
Sie ging zum Bahnhof, ohne zu wissen, warum. Sie hatte eigentlich kein Ziel. In der Bahnhofsbuchhandlung durchstöberte sie die Taschenbuch-Restposten zum halben Preis. Aber sie fand nichts, was sie wirklich interessiert hätte. Sie überquerte den viel befahrenen Südtiroler Platz und ging durch die Passage, die zur Zentrale der Tiroler Raiffeisenbanken führte. Ein paar Minuten später stand sie am Bozener Platz, ihr Gemüt hatte sich merklich abgekühlt, und sie
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