Kalter Fels
Meter erkennen. Und so hat dich die alte Grasberger gesehen. Und hat mich dann gefragt, ob du wieder da bist.«
»Und?«, sagte Ferdinand. »Was hast du gsagt?«
»Was glaubst? Hätt ich sagen sollen, du bist auf Urlaub da? Nach fünfunddreißig Jahren bist schnell mal rübergefahren aus Australien, und jetzt bist da und bleibst noch eine Zeit lang. Hätt ich das sagen sollen? Nein, natürlich nicht. Ich hab gesagt, dass sie sich getäuscht haben muss. Ich hätt schon lange nichts mehr gehört von dir, dein letzter Brief sei auch schon mindestens zwei Monat her.«
»Sie hat’s nicht geglaubt?«
»Nein, sie hat’s nicht geglaubt. Sie hat so getan, als ob sie es glauben würde. Aber ich hab es ihr an den Augen angesehen, dass sie überzeugt war, dich gesehen und erkannt zu haben.«
Sie wischte mit dem Mantelärmel über die Tischplatte, auch wenn es da nichts zu wischen gab und der Mantel zudem ziemlich ungeeignet war als Küchenlappen. Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie gar nicht merkte, was sie da Unsinniges tat.
»Was soll jetzt geschehen?«, fragte sie. »Sag’s mir … wie soll es weitergehen?«
Sie holte die zusammengefaltete Zeitung aus einer der Einkaufstaschen und legte sie auf den Tisch. Das Ticken der Uhr über dem Küchenbuffet kam Ferdinand aufdringlich laut vor. Er hätte sich gern die Ohren zugehalten, um es nicht hören zu müssen.
Am liebsten wäre er jetzt wieder auf der Alm gewesen, tief drinnen und weit oben im Karwendelgebirge. Vor der Welt verborgen, für niemanden existent. Nur für seine Schwester. Warum war er bloß ins Tal gegangen?
»Es ist fünfunddreißig Jahr her, dass das passiert ist«, sagte Hedwig mit erstickter Stimme. »Fünfunddreißig Jahre! Wir haben es so lange geschafft, dich zu verstecken. Nichts ist herausgekommen. Alle denken, es war ein Unfall. Alle haben die Sache lange vergessen. Und jetzt, plötzlich, ist alles in Gefahr. Ich weiß nicht, wohin mit dir. Wenn dich irgendwer sieht und erkennt …«
»Auf die Hütte«, sagte Ferdinand. »Ich geh zur Hütte zurück.«
Sie schaute ihn lange an.
»Das geht nicht«, sagte sie. »Es ist ein Wunder, dass du es heruntergeschafft hast. Hinauf hast du doch keine Überlebenschance. Jetzt im Frühjahr kommen die nassen Grundlawinen herunter, die erdrücken alles. Da langt oft die Spur einer Gams, um sie auszulösen. Du kannst nicht auf die Hütte. Und du kannst nicht hierbleiben.«
Ferdinand begann in der Küche auf und ab zu gehen. Immer schneller wurden seine Schritte, fünf nach der einen Richtung, fünf zurück. Und alle Kehren sahen eckig aus, wie Hakenschlagen.
Hedwig schaute ihrem Bruder zu. Sie stützte einen Ellenbogen auf die Tischplatte und legte ihre Schläfe in die flache, warme Hand. Sie wusste nur zu gut, wie es war, wenn ihr Bruder die Fassung verlor. Sie erlebte das in jedem Sommer einige Male, droben auf der Almhütte, wo sie ihre Ziegenherde hielt und von Mitte Juni bis Anfang oder Mitte Oktober mit ihm auf engem Raum lebte.
Früher hatte sie ihn angeschrien. Weil sie sein Hin-und-her-Gerenne einfach nicht aushalten konnte. Früher war sie wütend und laut geworden, später dann verzweifelt und apathisch. Mittlerweile war sie abgestumpft. Sie ließ ihn gewähren. Schließlich wusste sie, dass er irgendwann von selbst aufhörte. Aber er ging und ging, auf und ab, fahrig, zackig, staksig. Und er murmelte dazu etwas, ohne Unterlass, so, als würde er halblaut ein Gebet sprechen.
»Hör auf«, sagte sie so leise, dass sie damit kaum das Ticken der Uhr übertönen konnte. »Hör auf! Bitte hör auf!«
Ferdinand blieb abrupt stehen, er hörte auch sofort mit dem Gemurmle auf. Er sah seine Schwester an, als würde er eben erst ihre Anwesenheit bemerken.
»Hör auf!«, sagte sie noch einmal, um einem neuerlichen Gehanfall entgegenzuwirken. Und Ferdinand machte nur noch zwei Schritte, zu ihr an den Tisch, er setzte sich auf einen freien Stuhl und schob sein Gesicht ganz nah an ihres.
»Das Beste ist«, flüsterte er, »das Beste ist, wenn ich sie totmache. Was meinst du?«
»Nein!« Hedwig schrie auf. Es lag wahres Entsetzen im Klang ihrer Stimme. »Nein! Nein! Nein!«
Sie begann zu weinen. Das Gesicht in die Hände gelegt wie eine inbrünstige Büßerin schluchzte sie laut: »Nicht noch ein Mord. Nicht noch einer …«
Aber in der Tiefe ihrer Seele wusste sie auch keinen besseren Rat.
Ihr Gefühl sagte ihr, dass er recht hatte. Und ihr Verstand sagte, dass die Frau sterben musste.
Es gab
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