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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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Gespräch an.
    »Ja! Reuss?«
    Es vergingen wohl zwei, drei Sekunden, ehe sich jemand meldete.
    »Sie müssen scho entschuldigen«, sagte eine männliche Stimme. »Wir haben hier einen Gast … wie soll ich sagen … er ist in ziemlich mitleidigem Zustand. Auf gut Deutsch: Wir wissen eigentlich net, was mir mit ihm machen sollen – er is ziemlich besoffen, sagt uns seinen Namen net, hat uns aber, stellen S’ Ihnen vor, Ihnerne Handynummer auswendig hersagen können. Ist doch unglaublich.«
    Reuss reagierte unwirsch.
    »Sagen Sie dem Mann, er kann mich morgen in der Kanzlei anrufen, wenn er mich sprechen will, aber nicht abends zu Hause, auf dem Handy …«
    Da erst wurde ihm klar, wie sonderbar es war, dass dieser Mann seine Handynummer überhaupt wusste.
    »Wie heißt der Mann?«
    »I weiß net.«
    »Ja, dann fragen Sie ihn …«
    Er hörte, wie sich die Stimme am anderen Ende der Leitung vom Hörer entfernte, er hörte Stimmengewirr und Musikfetzen aus dem Hintergrund und dann wieder die Stimme des Anrufers:
    »Wie S’ heißen, möchte Ihnerner Herr Reuss wissen … des is aber net etwa der berühmte Herr Anwalt, oder? … Wie heißen S’? Paul? Paul und wie noch? Paul genügt? Na gut, i werd’s ihm sagen …«
    Dann war er wieder da, der Anrufer, und sagte: »Paul heißt der Mann. Er sagt, Sie wüssten schon und dass er Sie treffen möcht. Ob Sie net heraufkommen möchten nach Igls, sagt er. Weil er ja net leicht mehr runterkommt mit seinem Rollstuhl.«
    Reuss erkundigte sich nach der genauen Lage des Lokals. Ein paar Minuten später saß er in seinem Wagen, einem nachtschwarzen Audi A6 mit beigen Ledersitzen, und fuhr hinaus aus der Stadt.
    Schwarzenbacher, dachte er. Paul Schwarzenbacher. War mal der fähigste Kopf der Polizei in Tirol, vielleicht in ganz Österreich.
    Aber was ist ein Kopf ohne Körper, was sind Gedanken, wenn sie keine Beine bekommen können.

7
     
    In den höheren Lagen kam der Frühling früh und übergangslos. War der April noch vorwiegend grau gewesen und nasskalt an vielen Tagen, so stieg im Mai das Thermometer auch auf fünfzehnhundert Metern Höhe schnell auf zwanzig Grad. In Innsbruck wurden bis zu achtundzwanzig Grad gemessen, manche Leute stöhnten unter der Hitze, maulten, dass es viel zu warm sei für die Jahreszeit, andere lamentierten über den Klimawandel und zu welchen Katastrophen es kommen würde in nicht allzu ferner Zukunft – den meisten freilich war die Wärme angenehm; sie genossen es, Klimawandel hin oder her, draußen vor den Cafés sitzen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen zu können.
    In den Bergen schwand der Schnee, und wer sich in Innsbruck vors Landestheater stellte, den Kopf ein wenig in den Nacken legte und mit der Hand das blendende Sonnenlicht abschirmte, der konnte sehen, wie die Wärme und vor allem der Föhn den Schnee wegfraßen bis auf den braungrauen, noch unschönen Untergrund.
    Die alten Berggeher wussten, dass es der Föhn war. »Der Föhn schleckt den Schnee von den Bergflanken«, konnte man von Leuten hören, die schon in die Berge gegangen waren, als man noch Bundhosen und Wadlstrümpfe trug, als ein rot kariertes Hemd und ein vom Wetter verfilzter Lodenhut zur Standardausrüstung gehörten – also lange vor Fleece, Gore-Tex und Ultraleichtrucksäcken. Die Alten hatten sich noch ohne GPS zurechtfinden müssen, waren ausgekommen ohne Wetterbericht via iPod touch und ohne die Lebensversicherung durch ein stets sendebereites Handy. So hatten sie Instinkte entwickelt und tiefe Kenntnisse der Natur. Sie wussten vom Wetter fast so viel wie die seltenen Bergadler, die bisweilen über den Tälern kreisten, und sie spürten den Föhn schon Tage im Voraus.
    Im Föhn rückten die Berge näher heran, in der klaren Luft des sich erwärmenden Fallwindes, der über den Alpenhauptkamm herüberkam, zeigten die Gipfel ihre scharf geschnittenen Konturen, und als Bergsteiger konnte man aus großer Distanz die Details einer Wand erkennen, durch die eine Route führte. Meist bedeutete diese Wetterlage, dass es jenseits des Brenners, in Südtirol, regnete oder schneite, diesseits aber traumhafte Bedingungen herrschten – wenn man nicht von den Nebenwirkungen des Föhns betroffen war, zu denen man in der Tat am besten einen Arzt oder Apotheker befragte.
    Die weitest verbreiteten Nebenwirkungen waren Niedergeschlagenheit, Gereiztheit, Nervosität und bei denen, die es besonders schlimm erwischte, Kopfschmerzen bis hin zur Migräne.
    Für den jungen

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