Kalter Fels
Mensch hätte vor fünfunddreißig Jahren den Karl Mannhardt mit einem Stein erschlagen – die unheimliche körperliche Gewalt, die dabei vonnöten ist, passt nicht so recht in meine Vorstellungswelt.«
Marielle nickte.
»Also, da bricht dieser Mann in den Stadel ein, findet Schlüssel, sperrt sich die Hütte auf und verbringt dort eine oder mehrere Nächte. Er macht nichts kaputt, stiehlt nichts, nicht einmal den Herd heizt er an. Aber er hat Angst, im Schlaf von den Eigentümern überrascht zu werden.«
Reuss’ Gesicht strahlte eine gewisse Zuversicht aus.
»Er sucht sich eine Waffe. Ich hätte vielleicht ein großes Fleischmesser genommen oder eine Flasche, falls so was dort zu finden war. Dieser Mann hat zum Messer und zur Flasche nicht das gleiche Verhältnis wie zum Stein. Der Stein ist ihm vertraut. Jetzt fühlt er sich sicherer. Was meinst du, Paul?«
»Ich kann mich mit deinen Vermutungen durchaus anfreunden. Einen Fehler allerdings haben sie noch.«
»Und der wäre?«
Reuss und Marielle schauten gespannt auf Schwarzenbacher.
»Wenn dieser Stein als Waffe hätte dienen sollen«, sagte er langsam und nachdenklich, »dann hatte er nicht Angst vor den Eigentümern der Hütte. Ich meine, er hatte nicht Angst, dass er des Einbruchs überführt würde. Dieser Einbruch war kein besonders schweres Verbrechen. Eher schon eine Lappalie. Wer würde deshalb jemanden mit einem Stein erschlagen?«
Er schaute zum Fenster hinaus, wo die Bäume ihr erstes helles Grün zu tragen begannen, schaute hinaus, als wenn es da etwas sehr Interessantes zu sehen gäbe, wandte sich dann wieder an die anderen und sagte das, was für ihn das Wichtigste im Moment war:
»Wenn er sich mit diesem Stein schützen wollte, dann hatte er Angst, entdeckt zu werden. Er hatte Angst, dass etwas viel Schwerwiegenderes aufkäme als sein Einbruch in die Hütte. Ich glaube, Marielle, du bist ein Glückskind …«
***
Sooft es ging, verließ Olaf Klar die Stadt und fuhr hinaus ans Meer. Er wunderte sich selbst darüber, dass er in der Natur wenigstens etwas Ruhe und die Kraft zum Nachdenken fand.
Das Meer war ihm dabei egal. Er ging nicht hinauf zu den Deichen, parkte nur irgendwo unweit der künstlichen Wälle, die das Bauernland vor den Fluten schützen sollten, und blieb eine oder zwei Stunden im Auto sitzen.
Nicht einmal das Radio schaltete er an. Saß nur da und starrte auf den Deich, auf die schräge Wiesenfläche, hinter der sich das Meer verbarg. Oder die Wattlandschaft, wenn Ebbe herrschte.
Seine Gedanken kreisten um schreckliche Geschehnisse, die Jahre zurücklagen. Und sie suchten nach Wegen, mit seiner Schuld fertig zu werden. Er war nie fromm gewesen, hatte aber irgendwann damit begonnen, das Vaterunser zu beten. Anfangs nur am Ende seiner Ausflugsfahrten, bald schon an jedem Tag morgens und abends. Mittlerweile betete er es zehnmal am Tag und öfter, lautlos, aber inbrünstig, hingebungsvoll und doch in der fernen Gewissheit, dass ihm das seine Schuld nicht nehmen konnte.
Ich muss jemandem die ganze Geschichte erzählen, dachte er. Sooft er es dachte, sooft verwarf er den Gedanken wieder: Seine Beichte würde auch Steffen Gensner verraten, damals genauso jung wie er, so dumm, so verrückt – und nun so voller Schuld wie er selbst.
Klar überlegte sich, wie es wäre, sich vor einen Zug zu werfen oder Tabletten zu nehmen. Ohne vorher ein Geständnis abgelegt zu haben. Damit würde er den Kumpan von einst schützen und sich seiner Träume entledigen. Der Gedanke war verlockend.
Und doch kam sich Klar vor, als würde er damit ein weiteres Mal schuldig werden. Und das wollte er unter keinen Umständen.
Er saß im Wagen, starrte auf den sattgrünen Deich und den gewitterblauen Himmel darüber, und er begann, sein soundsovieltes Vaterunser zu beten an diesem Tag.
»Vater unser im Himmel …«
Tränen liefen ihm über die Wangen.
»… wie im Himmel, so auf Erden.«
Er wischte sich die Tränen mit einem Papiertaschentuch ab.
»Und vergib uns unsere Schuld …«
Vergib mir meine Schuld, dachte er. Bitte vergib mir meine Schuld.
Und dann erst betete er zu Ende.
* * *
Marianne Grasberger ging morgens und abends mit ihrem Hund hinaus. Früher hatte Sepperl das sehr gern gehabt, jetzt war er alt, der Bauch schleifte fast am Boden, da musste sie ihn schon mit sanfter Gewalt dazu zwingen, das warme Haus zu verlassen.
Sie lebte allein, allein mit ihrem Hund, der von undefinierbarer Rasse war. Sie bezog eine kleine
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