Kalter Fels
verstecken könnte.«
»Es wäre ein sehr spartanisches Leben«, ergänzte Pablo. »Und man würde es nicht ewig aushalten. Nachts, wenn keine Gefahr wäre, müsste man absteigen und Wasser holen. Man könnte sicher sogar ein kleines Feuer machen innerhalb der Höhle und sich was kochen; in der Dunkelheit, wenn der Rauch nicht zu sehen wäre. Das Problem wäre die Versorgung mit Lebensmitteln. Woher nehmen? Und wie genug davon in die Höhle bekommen?«
Jetzt erhellten sich die fragenden Gesichter wieder. Hosp nickte. Schwarzenbacher auch.
»Ihr seid also auch der Meinung, dass sich einer wie Senkhofer gut im Karwendel verborgen halten kann. Und dass wir ihn so schnell nicht finden.«
»Die Polizei hat doch bestimmt schon mit Hubschraubern gesucht, oder?«, sagte Marielle.
Wieder nickte Hosp. »Ich bin auch schon selbst mitgeflogen«, sagte der Kommissar. »Interessehalber. Es ist beeindruckend, die Wildheit des Gebirges von oben zu sehen. Und zugleich ist es erschütternd zu erfahren, wie schwierig die Suche nach einem einzelnen Menschen ist. Wenn man einen Verunglückten sucht, der sich an der Ödkarspitze verstiegen hat, dann hat man einen ziemlich klar umrissenen geografischen Rahmen, innerhalb dessen man suchen muss. Und schon das kann sich als unglaublich schwierig herausstellen. Das Gebirge ist kein Tablett, auf dem die Sachen schön geordnet liegen. Das Gebirge ist Chaos. Ein wundervolles Chaos. Und das Karwendel ist dazu noch riesengroß. Ich hab mal auf der Karte nachgesehen: Das sind etwa vierzig Kilometer in West-Ost-Richtung, ungefähr fünfundzwanzig in Nord-Süd-Richtung.«
Hosp drehte das Glas am Tisch, während er überlegte. Dann sagte er: »Nein, ich glaube nicht, dass es leicht wird, Ferdinand Senkhofer zu erwischen.«
* * *
Gensner fuhr die achthundertfünfundsiebzig Kilometer an die Nordsee mit nicht mehr als drei Pausen. Zwei davon dauerten kaum mehr als fünf Minuten – er hielt auf Rastplätzen, um zu pinkeln und den Rücken zu strecken. Nur eine Unterbrechung war länger: Er trank in einer Raststätte einen Cappuccino und aß ein Croissant. Und während er das tat, telefonierte er.
»Hi, Olaf. Lange nichts gehört … Du, ich bin zufällig in deiner Gegend … ja, nicht allzu weit von Wilhelmshaven … Wenn du mir deine Adresse gibst … Was, keine Zeit? Das ist aber schade … Ich würde vorbeikommen … Dauert ja nicht lange … Ach, hör doch auf, so viel Zeit wirst du doch haben.«
Gensner zerbröselte sein trockenes Croissant in der Hand, ohne sich dessen bewusst zu sein.
»Verdammt noch mal! Nimm dir die Zeit! Sag mir, wo wir uns treffen können! Ich bin in zwei Stunden da!«
Es dauerte, bis Klar eine Antwort gab. Gensner sah, dass die Leute an den anderen Tischen in der Cafeteria ihn verstohlen beobachteten.
»Okay«, sagte er dann. »Ich weiß, dass du alles vergessen möchtest. Das würde ich auch am liebsten.« Er sprach leise jetzt, und seine Worte gingen unter im allgemeinen Gemurmel und Geraune in der Raststätte. »Aber das geht nicht. Schau mal auf www.alpenverein.de. Dann weißt du auch, warum es nicht geht. In zwei Stunden bin ich in Wilhelmshaven. Und wehe, du bist nicht da.«
Er schlürfte den letzten Rest Milchschaum aus seiner Tasse und ging zum Wagen.
Klar war mir nie geheuer. Hab ihn immer für ein Weichei gehalten, dachte er. Und jetzt muss ich aufpassen, dass er nicht einknickt. Sonst bin ich fällig. Ich werde ihm auf den Zahn fühlen. Muss schauen, wie es um ihn steht.
Bevor er losfuhr, sah er noch einmal ins Handschuhfach. Dort lag, neben dem Benutzerhandbuch und allerlei Krimskrams, eine dünne Reepschnur, drei Millimeter stark, grün-gelb gesprenkelt. Beim Klettern fand diese Stärke nur Verwendung, um Material zu fixieren oder zur Verspannung der Zeltwände. Im Laden hatte er einen Meter zwanzig von der Rolle geschnitten. Die Schnur war so stabil, dass man fast ein Auto damit abschleppen könnte.
Gensner nahm sie aus dem Handschuhfach, wickelte sie auf und schob sie in die Innentasche seiner braunen Lederjacke.
Wenn ich sie brauche, dachte er, wenn ich sie brauche, ist sie da.
* * *
Marielle fuhr wieder einmal hinaus aus der Stadt. Sie stellte das Auto auf einem Wanderparkplatz ab, von dem aus Forstwege ins Gebirge führten. Sie machte ein paar Dehn- und Aufwärmübungen und sog die Luft durch die Nase tief in die Lunge. Es roch so sauber, nach Natur, nach Walderde und nach Fels, bisweilen nach altem Schnee. Dieser Duft war
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