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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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wie eine Verheißung, und er versprach eine besondere Nähe zur Natur, tiefe Eindrücke, Bilder von großer Landschaft und kleinen Details. Bilder, von denen sie zehren würde, zumindest so lange, bis sie wieder rauskam aus der Stadt, bis sie wieder in die Berge kam.
    Und dann lief sie los. Ganz langsam, denn es ging von Anfang an leicht bergauf. Und es würde noch lange bergauf gehen. Eine Stunde lang würde sie ununterbrochen bergauf laufen. Das erforderte ein genaues Einteilen der Kraft, und es war eine Kunst, den richtigen Rhythmus zu finden, der Atmung und Beinarbeit aufeinander abstimmte.
    In Gießenbach, dem Weiler zwischen Seefeld und Scharnitz, hatte sie geparkt. Zwischen brüchigen Felstürmen führte eine Forststraße talein. Der Tag war trocken, und er würde heiß werden. Noch aber kühlte die Luft ein wenig, und das war Marielle sehr angenehm. Nichtsdestotrotz lief ihr schon nach dem ersten knappen Kilometer der Schweiß von der Stirn, und nach einem weiteren Kilometer war ihr Trikot klitschnass. Sie hatte den Rhythmus gefunden. Sie lief kraftvoll und stieß jeden Atemzug laut pustend aus. Sie wusste, dass in der Lunge nichts zurückbleiben durfte vom verbrauchten Sauerstoff. Anderenfalls wäre sie mit ihren Kräften schnell am Ende. Sie wollte aber laufen – nicht zu Fuß durchs Tal wieder heraushatschen …
    Sie lief am liebsten ganz allein. Pablo machte sich nichts aus dieser Berglauf-Plackerei. Und eine ihrer Freundinnen, mit der sie ab und zu in der Halle beim Klettern war, fand nie die richtige Einstellung dazu. Sie hatten es miteinander versucht, aber die Freundin hatte sich dabei derart plagen müssen, dass sie von der Schönheit der Natur nichts gesehen, gehört und gerochen hatte. Das macht keinen Sinn, hatte Marielle gedacht und war fortan immer allein gelaufen. Allein mit sich und ihren Gedanken und Gefühlen. Allein mit der Natur. Und sie war froh, dass sie noch während einer harten Steigung den Kopf frei genug hatte, um sich an einer Bergblume zu erfreuen oder an den bizarren Formen einer Krüppelkiefer oder am Spiel der Wolken über dem nächsten Bergrücken.
    Zunächst führte der Weg immer am Gießenbach entlang, der bisweilen knapp neben ihr dahinfloss, dann wieder tief eingeschnitten in den Fels weit unter ihr toste. Immer wieder überholte sie Bergwanderer und hörte dann, wenn sie schon an ihnen vorbei war, Bemerkungen des Erstaunens oder des Respekts. Einen hörte sie sagen: »Die muss gut beinand sein!« Aber ein andermal hörte sie auch nur, dass es sich bei ihr um eine »Gschpinnerte« handeln müsse, weil man schließlich verrückt sein musste, um so etwas zu tun.
    Sie kümmerte sich nicht darum. Sie lief und lief. Und je weiter sie lief, desto lockerer wurde sie. Sie spürte die Anstrengung in den Beinen, in der Atmung, im ganzen Körper. Doch sie spürte zugleich, dass sie über enorme Kraft verfügte – und dass dieses Zusammenwirken von Belastung und Kraft ihr eine geradezu rauschhafte Freude bereitete.
    Oft sah sie nach oben, hinauf zu den zerklüfteten, wilden, unstrukturierten Bergflanken. Sie sahen aus, als hätte vor langer Zeit ein Riese ganze Berggipfel mit brachialer Gewalt zertrümmert und dann einfach alles so liegen lassen. Ein Chaos, wie Hosp gesagt hatte! Und doch so schön.
    Auf der von der Sonne beschienenen Talseite war das Gestein weiß, knochenweiß. Aus dem schrofigen Gestein wuchsen Bäume heraus, Fichten, Lärchen und vor allem Kiefern, die keine großen Ansprüche an ihren Lebensraum stellten.
    Zwischen dem licht stehenden Wald blühten Alpenrosen und allerlei Trockengewächse. Marielle ärgerte sich, dass sie nie gelernt hatte, die Pflanzen zu bestimmen. Und wenn ihr einmal jemand sagte, das da ist ein Steinbrech, das hier eine Gletschernelke und das da ein Alpen-Hahnenfuß, dann war sie immer begeistert und nahm sich ganz fest vor, es nur ja nicht wieder zu vergessen – aber sie vergaß es, noch bevor sie von der Tour zurück war. Natürlich kannte sie Edelweiß, Enzian und Almenrausch. Aber darüber hinaus …
    Ich muss mir so ein Pflanzenbuch besorgen, dachte sie. Wo alle Alpenpflanzen drin sind. Ist ja eine Schande. Ich kann gut Ski fahren, kann gut klettern, kenn mich in den Bergen aus, aber die Blumen kenne ich nicht. Und wenn ich jemals Bergführerin werden will, muss ich das ja wohl auch wissen.
    Doch heute waren es nicht die Blumen, auch nicht die üppig blühenden Alpenrosen, die ihre Aufmerksamkeit besonders auf sich zogen. Sie nahm

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