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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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dass Oltmanns nicht verstehen konnte, was seine Frau sagte. Er sah nur, wie sich ihre Lippen bewegten. Und er sah in ihren Augen Angst.
    »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte er. »Überhaupt keine Angst. Der Weg soll nicht schwierig sein. Nirgends Stellen, wo man in die Tiefe stürzen könnte. Absolut gefahrlos, meine Liebe!«
    Zunächst hatten sie etwas Mühe, den Pfad zu finden, der von einer breiten Forststraße abzweigte und dann in Serpentinen steil durch den Wald führte. Hier leuchteten die Farben nicht mehr; die Bäume gaben ihren Rot- und Gelbtönen selbst den Schatten. Es war immer noch zauberhaft im Wald, insbesondere an jenen Stellen, wo das Sonnenlicht in hellen Strahlen zwischen Stämmen, Laub- und Nadelkronen hindurchbrach und dadurch alles anmutete wie auf den alten katholischen Heiligenbildern, die er, der evangelische Geistliche, zu Hause in einer kleinen, stabilen Pappschachtel sammelte.
    Je höher sie stiegen, desto schwieriger wurde die Wegsuche. Der Pfad war bedeckt vom bunten Laub, das schon von den Bäumen gefallen war, und immer mehr erschien ihm alles gleich: der Wald und der Berg und der Weg und der Boden, alles vielfarbig und kaum voneinander zu unterscheiden.
    Seine Frau, die zuvor noch ein wenig ängstlich gewesen war, bewegte sich nun ganz traumwandlerisch im herbstlichen Bunt. Sie nahm irgendwo einen abgebrochenen Ast auf und stocherte damit im Laub herum, ließ es aufwirbeln und versuchte, ein einzelnes weinrotes Eichenblatt in der Luft zu halten wie ein Jongleur einen kreisenden Teller. Was freilich misslang. Ihr aber gar nichts ausmachte. Sie kicherte. War fröhlich wie ein Kind. Schon wollte Oltmanns sie tadeln. Wollte sagen, sie solle nicht gar so kindisch sein, solle zügig weitergehen, bestimmt war es noch weit bis zum Gipfel.
    Aber dann sah er das Zucken.
    Ein Zucken unterm Laub. Als würde der Boden an einer Stelle einen eigenen Herzschlag haben. Eine pumpende, dabei beinahe rhythmisch pulsierende Bewegung. Sie erschraken beide. Doch dieses Erschrecken währte nur kurz und wich dann einer geradezu kindlichen Neugier. Auch er griff sich nun einen Stecken, und nun stocherten sie, vorsichtig zunächst, dann immer entschiedener, in dieser verlaubten und zuckenden Stelle herum. Leicht gebückt standen sie da und rührten mit ihren Stöcken im Laub, bis es sein Geheimnis freigab. Was da zuckte und wieder erstarb, zuckte und erstarb, was zuckte wie ein sterbender Fisch, war ein menschliches Bein. Das Bein eines Bergwanderers, ganz offensichtlich. Der zuckende Fuß steckte in einem Wanderschuh, dessen Sohle lehm- und erdverkrustet war. Das Hosenbein sah nach wüstenbeiger Outdoorbekleidung aus. Sie stocherten weiter, während das Bein zuckte. Sie legten den Unterkörper frei, dann den Bauch, einen Arm. Nichts zuckte außer dem Bein. Aber der Oberkörper und der Arm, bekleidet mit einer Softshell-Jacke, zeigten Blutspuren. Viele Spritzer am Arm und einen noch nass erscheinenden großen Flecken im oberen Brustbereich.
    Sie hatten keine Angst. Oltmanns war die Ruhe selbst, da war kein Erschrecken, war keine Panik. Und auch in den Augen seiner Frau sah er nichts, was darauf hingedeutet hätte, dass sie sich fürchtete. Ganz im Gegenteil: Ihren Mund schien ein kleines, bitteres Lächeln zu umspielen, ein Lächeln, das er an ihr gar nicht kannte und das ihn einen Moment lang mehr befremdete als der Bergwanderer im Laub und dessen zuckendes Bein. Er war verwundert.
    Noch mehr allerdings, als seine Frau mit dem Ast auch noch den Kopf freilegte oder besser: das, was davon übrig war. Der Mann, der nun völlig aus dem Laub gegraben war, musste erschlagen worden sein. Vielleicht mit einem Holzknüppel oder mit einem Stein. Jedenfalls war die Hälfte des Schädels zertrümmert. Auch ein medizinischer Laie konnte unschwer erkennen, dass der Schädelknochen geborsten und gegeneinander verschoben war. Alles war dick blutverkrustet, wobei das geronnene Blut fast schwarz war. Nur die Gehirnmasse war weiß und von unzähligen winzigen Äderchen, rot und bläulich, durchzogen. Und ein Auge. Das Auge, das noch zu erkennen war. Die Lider waren offen, doch der Augapfel war so verdreht, dass nur das Weiße zu sehen war.
    Es war ein schrecklicher und zugleich interessanter Anblick. Beide, Oltmanns und seine Frau, beugten sich hinab, um diese erstaunliche Absonderlichkeit eingehender zu studieren. Die Frage, warum der Mann noch zuckte, ob er vielleicht gar nicht richtig tot war, stellte sich ihnen

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