Kalter Fels
keine Zeit, mit dir jetzt Smalltalk zu machen, dachte er. Ich muss wissen, was Olaf macht, wenn er das liest. Vielleicht liest er es ja gar nicht. Vielleicht bekommt er nichts davon mit. Aber wenn doch … der scheißt sich in die Hose, dachte Gensner. Der scheißt sich wirklich in die Hose, und dann geht er zur Polizei und stellt sich am Schluss noch selbst. Und wenn sie ihn haben, dann kriegen sie mich. Ja, verdammt noch mal, dann kriegen sie mich!
Ich rufe ihn an. Ich muss mit ihm reden. Ich muss wissen, was er tut. Und wenn es nicht das Richtige ist, muss ich schauen, wie ich da noch rauskomme.
* * *
In Reuss’ Besprechungszimmer herrschte überaus gute Stimmung. Der Staranwalt strahlte übers ganze Gesicht.
»Ist doch famos, dass wir mit diesen Steinschlag-Morden den richtigen Riecher gehabt haben«, sagte er. Vor Stunden schon hatte er eine Flasche burgundischen Grand Cru öffnen und dekantieren lassen, damit der edle Wein beim Treffen mit Schwarzenbacher, mit Kommissar Hosp und den jungen Leuten jenes Bouquet entfalten konnte, für das er so berühmt und weswegen er auch so teuer war.
»Wir wissen jetzt, dass die Schwester von Karl Mannhardt mit ihren Vermutungen richtiglag. Gut, dass wir darauf angesprungen sind. Und wir wissen jetzt, wer der Mörder ist. Es ist bestimmt nur noch eine Frage der Zeit, bis ihr ihn habt.« Er nickte Hosp zu. »Ein guter Anlass, um anzustoßen.«
Er hob das Glas und sagte zu allen ein lachendes »Zum Wohl«.
Die Gläser klangen hell. Marielle und Pablo ließen sich Zeit damit, aus ihren zu trinken. Sie wollten nichts falsch machen bei diesem Wein, dessen Etikett bei Schwarzenbacher ein Zungenschnalzen ausgelöst hatte. Sie achteten auf Reuss, beobachteten, wie er den Wein im Glas kreisen ließ, wie er daran roch, das Glas zum Mund führte und dann auf dem Schluck, den er genommen hatte, richtiggehend zu kauen schien.
Hosp stieß mit allen an. Auch er schien zufrieden, aber doch weniger euphorisch als Reuss.
»Allen Respekt, kann ich nur sagen. Ich hatte meine Zweifel, als ihr mit den angeblichen Steinschlag-Morden gekommen seid. Ernsthafte Zweifel. Aber …«
Er hatte das Glas wieder auf den Tisch gestellt und zog nun sein Gesicht in Falten. »Aber dass wir diesen Ferdinand Senkhofer bald haben werden, da bin ich mir noch nicht so ganz sicher. Wenn er ins Gebirge verschwunden ist … das Karwendelgebirge ist riesig. Einer, der sich dort gut auskennt – und unser Mann tut das ganz offensichtlich –, der kann sich lange verborgen halten. Und wie es scheint, ist Senkhofer auch noch in der Lage, wie ein Tier zu hausen und zu leben. Wie ein wildes Tier, muss ich wohl dazu sagen … Was meint ihr?«
Er sah zu Pablo und zu Marielle. Als sie ihm beim heutigen Zusammentreffen von Reuss vorgestellt worden war, da fiel ihm wie Schuppen von den Augen, dass Marielle die Hauptperson des Dramas an der Schattenwand gewesen war – und dass er sie erst vor wenigen Tagen gesehen hatte. Wo war es doch gleich? Richtig: in der Innsbrucker Uniklinik. Aber da war sie ihm nur bekannt vorgekommen, und er hatte nicht realisiert, wer sie eigentlich war.
»Was meint ihr? Ihr kennt euch doch in den Bergen dieser Gegend bestens aus.«
»Wir haben erst gestern darüber gesprochen«, sagte Pablo. »Marielle und ich. Dass es im Karwendel unendlich viel Einsamkeit gibt. Berge, auf die das ganze Jahr niemand steigt. Bergflanken, wo niemand unterwegs ist außer einem Gämsenrudel. Ich glaube nicht, dass man da leicht jemand finden kann. Man kann sich da gut verborgen halten, wirklich.«
Er schaute Marielle an, und sein Blick war dabei so, als würde er ihr einen Ball zuwerfen.
»Wenn ein Krieg käme, würden wir uns dort verstecken«, sagte Marielle.
Auf den Gesichtern von Reuss, Hosp und Schwarzenbacher entstanden Fragezeichen.
»Ein blödes Spiel«, sagte sie. »Aber wir haben darüber gesprochen, wo man sich verbergen könnte, wenn so etwas Schlimmes passieren würde. Wenn ein Krieg käme und die Städte und Dörfer beschossen würden. So wie das in Jugoslawien war. Wir waren ja noch Kinder damals, aber die Fernsehbilder haben sich eingeprägt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb wir über so ein Thema nachgedacht haben. Und von unseren Touren im Karwendel, vor allem mit dem Mountainbike, wissen wir halt, dass es da oberhalb der Karwendeltäler jede Menge Felshöhlen gibt. Manche wäre leicht zu erreichen, zu anderen muss man hinklettern. Aber wir sind uns sicher, dass man sich da
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