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Kalter Fels

Kalter Fels

Titel: Kalter Fels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Koenig
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alles wahr und freute sich daran. Aber wonach sie während des Laufens vor allem Ausschau hielt, waren, auch wenn sie es sich selbst nicht eingestehen wollte, die Höhlen, die ein gutes Stück weiter oben, dort, wo der Fels sich aufsteilte, als schwarze Löcher zu sehen waren.
    In so einem schwarzen Loch kann man sich verstecken, dachte sie. Wenn es tief genug ist, kann man eine Zeit lang darin hausen. Und wenn es wirklich tief genug ist, kann man drinnen nachts ein Feuer machen, das keiner sieht, und der Rauch zieht einfach durch die Öffnung ab. Angenehm ist es sicher nicht. Aber wahrscheinlich besser als im Gefängnis oder in der Klapsmühle. Mir wär es auf alle Fälle lieber, mich da zu verstecken, als irgendwo in einer kleinen Zelle und hinter Gittern hocken zu müssen.
    Er sitzt in so einer Höhle, dachte sie. In irgendeinem Loch in diesem Gebirge.
    Wo der Weg sich gabelte, hielt sie sich links. Ein paar Serpentinen verlangten ihr enorme Willens- und Kraftanstrengung ab. Bald aber wurde der Weg wieder etwas flacher, und sie tat sich leichter, ihren Rhythmus zu halten.
    Das Karwendel ist so verdammt groß, dachte sie. Und es ist von so vielen Tälern durchzogen, da ist es unmöglich, ihn systematisch zu finden. Da bräuchte es schon einen Zufall. Aber Zufall ist halt nicht viel, wenn es darum geht, einen Mörder zu schnappen.
    Als sie nach etwa fünfhundert Höhenmetern und nicht mehr weit entfernt von der Oberbrunner Alm beschloss, wieder umzukehren, stand für sie längst fest, dass sie in den nächsten Tagen nur noch in den Karwendeltälern laufen würde. Die Lawinengefahr war wohl weitgehend vorbei; es sprach nichts dagegen, ins Karwendeltal, ins Hinterautal und ins Gleirschtal hineinzulaufen.
    Ich werde ihn nicht finden, dachte Marielle. Wie auch. Aber wenigstens halte ich mich viel dort auf, wo er sich versteckt halten könnte. Und dann fiel ihr ein, dass sie noch gar nicht wusste, wie Ferdinand Senkhofer eigentlich aussah.
    * * *
     
    Superintendent Oltmanns hatte unruhige Tage hinter sich. Nicht nur wegen der »Beichte« von Olaf Klar, aber deswegen schon ganz besonders. Die Sache hatte ihn nicht mehr losgelassen. Und es war keine Stunde vergangen, in der er nicht an die in den Bergen geschehenen Morde gedacht hätte. Er dachte so oft und so intensiv daran, dass er schon Bilder vor seinem inneren Auge sah: die jungen Männer, die völlig überraschten Opfer, die brutalen Schläge, das Blut überall. Es war ihm, als würde er sich eines schrecklichen Fernsehfilms wieder und wieder erinnern.
    Er beobachte sich selbst, sah sich das Telefon umschleichen, sah sich die Hand danach ausstrecken – um sie doch im letzten Augenblick zurückzuziehen, so als wäre das Telefon eine glühende Herdplatte.
    Er konnte sich nicht dazu durchringen, sein Schweigegelübde zu brechen und die Polizei darüber zu informieren, was ihm dieser Klar berichtet hatte. Ein Traum brachte die Wende.
    Oltmanns war spät zu Bett gegangen. Er hatte lange ferngesehen, war danach noch einmal ins Arbeitszimmer, um eine Broschüre zu suchen, für die er dann aber, schon im Bett liegend, nicht mehr die nötige Konzentration aufbrachte. Er fühlte sich müde und etwas niedergeschlagen, fand aber, nachdem er das Licht abgeschaltet hatte, lange keinen Schlaf. Und als er schließlich schlief, wurde er von diesem schrecklichen Traum heimgesucht, einem Traum wie ein trashiger Horrorfilm …
     
    Es war ein wundervoller Tag im Herbst. Der Bergwald färbte die Hänge der Bayerischen Voralpen in Farben, die Oltmanns und seine Frau nur aus Bildbänden und Merian-Heften kannten: Indian Summer im Osten der USA. Welch ein Zauber von diesem Farbenspiel ausging, vor allem wenn am späten Nachmittag die Sonne tief stand und ihr Licht die Bergketten zum Glühen brachte: Rost, orange, rot, rehbraun und dazwischen dunkelgrün die Nadelbäume – die Natur schien noch einmal all ihre Pracht entfalten zu wollen, ehe sie für den Winter erstarb.
    Oltmanns und seine Frau waren in Kochel am See. Hatten ein Zimmer genommen überm »Bauerncafé Giggerer«. Er hatte sich neue Wanderschuhe gekauft. Die wollte er jetzt ausprobieren. Die Wirtin empfahl ihnen eine einsame Tour: durch den Ort Richtung Jochberg, dann auf ganz schmalen, aber unschwierigen Pfaden zur Sonnenspitze.
    Sie folgten dem Rat. Dort, wo der Wald heranreichte an die letzten Häuser von Kochel, hörten sie den Lainbach in einer tief eingeschnittenen Felsklamm rauschen. Laut toste der Bach. So laut,

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