Kalter Fels
auf den ersten Blick gesehen: Da standen genau jene Daten, die ihn betrafen.
Rofan 2002. Kaisergebirge 2003. Kriminalpolizei. Nachuntersuchung. Oft hatte er schlecht geträumt in den letzten Jahren. Dann hatte er wieder die Verzweiflung in den Augen der Männer gesehen, die schiere Verzweiflung. Und ihr Erkennen, dass sie dem Tod nicht mehr entkommen konnten. Er hörte wieder die Knochen, die unter dem Aufschlag der Steine zerbrachen, und das eigenartig matschige Geräusch, das zustande kam, wenn der Schlag ins Weiche – Fleisch, Blut, Gehirnmasse – traf. Er sah wieder die toten Augen.
Unangenehme Träume. Aber das waren nicht die schlimmsten für ihn.
Die schlimmsten, die am realistischsten auf ihn einwirkenden, waren jene, in denen er sich verfolgt träumte, auf der Flucht vor der Polizei, auf der Flucht vor den Angehörigen der Opfer, wo er überall Steckbriefe sah und spürte, dass er sich nicht mehr im Tageslicht zeigen konnte, sein ganzes Leben lang nicht mehr, keine Minute mehr, immer auf der Flucht, immer verfolgt, immer spürend, dass sie ihn gleich haben würden.
Schreiend wachte er dann jedes Mal auf, und er hörte dabei im Erwachen und Hochschrecken den Nachhall seines Schreies, wusste, dass er geschrien hatte, er selbst, und brauchte dann noch einige Sekunden, um sich zu vergegenwärtigen, dass die Frau neben ihm keine Polizistin war, sondern seine Lebensgefährtin Mona, die ihn bestürzt ansah. Die Tage nach derartigen Traumnächten waren immer zutiefst deprimierend für ihn. Sie verloren nichts von der Bedrohlichkeit, die in seinen Alpträumen geherrscht hatte. An solchen Tagen konnte er das Gefühl der Ausweglosigkeit durch nichts bannen. Ständig sah er sich in der Falle, eingekreist, umstellt. Und es hätte nicht viel gefehlt und er wäre zum Flughafen gefahren, um irgendwohin zu fliegen, ganz ohne Gepäck, nur weit, weit weg. Die Zukunft war ihm egal – wenn nur die Vergangenheit hinter ihm blieb …
Und jetzt war sie wieder da, seine Vergangenheit. War ihm näher gerückt, näher noch als in seinen grauenvollen Träumen. Da stand sie, gedruckt in blauen Lettern – seine Vergangenheit.
»Nachuntersuchung bei Steinschlagunfällen – Kriminalpolizei Innsbruck bittet um Mithilfe«.
Er hielt die Zeitschrift mit zittrigen Händen. Und er las die ganze Nachricht, las sie wieder und wieder.
»Die Innsbrucker Kriminalpolizei bittet bei Nachrecherchen verschiedener Bergunfälle in den Tiroler Alpen um die Mithilfe der Mitglieder des DAV. Es handelt sich um Steinschlag-Unfälle mit jeweils tödlichem Ausgang. Geschehen am 10. Juli 1974 im Berglental (Aufstieg von Leutasch zur Meilerhütte, Wettersteingebirge), in der zweiten Augusthälfte 1984 in der Südflanke der Lamsenspitze (Karwendel), am 23. September 1997 im Bereich des Normalanstieges von Kühtai zum Pirchkogel (Stubaier Alpen), Ende Juni, Anfang Juli 2002 nahe dem Ampmoosboden (Rofan) und am 25. oder 26. August 2003 am Aufstieg zur Fritz-Pflaum-Hütte im Wilden Kaiser.
Wer zu den genannten Unglücksfällen sachdienliche Hinweise machen kann – gefragt sind auch Berichte von Augenzeugen, die die jeweiligen Geschehnisse unter Umständen aus größerer Entfernung verfolgt haben –, wende sich bitte direkt an die Kriminalpolizei Innsbruck.«
»Ende Juni, Anfang Juli 2002 nahe dem Ampmoosboden (Rofan) und am 25. oder 26. August 2003 am Aufstieg zur Fritz-Pflaum-Hütte im Wilden Kaiser«.
Fassungslos las Gensner diese Zeilen. Ihm war schlecht, ihm war zum Kotzen.
Hört das nicht auf?, dachte er. Hört das nicht auf? Nie? Nie?! Nie?! In seinen Gedanken schrie er die Worte aus sich hinaus.
Ich sitze in der Falle, dachte er. Seit damals sitze ich in der Falle und habe es bloß nicht gewusst. Geträumt habe ich es, aber nicht wirklich realisiert. Und jetzt kommen sie und holen mich und zerstören mein Leben.
Er drückte die Spülung, damit Mona glauben konnte, er hätte eine längere Notdurft zu verrichten gehabt, ließ kurz das Wasser am Waschbecken laufen, dann eilte er in den großzügigen Wohnraum und sagte zu ihr:
»Ich muss ins Geschäft. Ich habe etwas vergessen, was unbedingt erledigt werden muss.«
»Jetzt? So eilig? Soll ich mitkommen?«
»Nein«, sagte er. »Ich muss nur rasch etwas erledigen. Bin bald zurück.«
»Wann kommst du wieder?«, fragte sie. Er sah Zweifel und Misstrauen in ihrem Blick, aber es war ihm egal. Er war schon in die Schuhe geschlüpft, nahm sich eine Jacke und stürmte aus der Wohnung.
Ich habe
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