Kalter Mond
Ansturm unerwünschter Gedanken abwehrt, wedelte Delorme heftig vor dem Gesicht herum. Am Fuß der Böschung befand sich eine weitläufige, fast kreisförmige Lichtung, an der man die oberste Erdund Kiefernnadelschicht abgetragen hatte. Drei Gestalten krochen auf Händen und Füßen und siebten den Boden. Alle drei, registrierte Delorme nicht ohne Neid, trugen Mückenschutzhemden mit Kapuzen aus Netzgewebe, die den ganzen Kopf umgaben.
Eine der Gestalten richtete sich auf und starrte sie an. Delorme fühlte sich, als würde sie von einem Astronauten beäugt; sie hätte nicht einmal sagen können, ob das Wesen männlich oder weiblich war.
»Ich bin auf der Suche nach Dr. Wasserstein«, sagte sie. »Ich hab gehört, sie ist …«
Die Gestalt mit der Kapuze hob einen kleinen Spaten und deutete ans andere Ende der Ausgrabungsstelle. Dr. Wasserstein kauerte über einem Sieb, das sie wie ein Goldschürfer hin und her rüttelte.
»Dr. Wasserstein?«
Das Sieben hörte auf. Die Netzkapuze wandte sich ihr zu.
»Mein Name ist Lise Delorme, ich bin Detective bei der Kripo Algonquin Bay. Ob Sie wohl einen Augenblick Zeit für mich haben?«
»Kripo? Ich bin im Moment gerade ziemlich beschäftigt, aber wenn Sie so weit gefahren sind, nehme ich an, dass es etwas Dringendes ist?«
»Ich fürchte, ja.«
»In Ordnung. Gehen wir in den Wohnwagen. Sonst werden Sie noch bei lebendigem Leib gefressen.«
Der Wohnwagen war ein Büro auf Rädern. Auf dem Tisch lagen Generalstabskarten, Notizbücher, Kameras und Vermessungsgeräte. Neben einer Riesendose Antiinsektenspray stand eine große Thermoskanne.
»Kaffee?«
»Sehr gern.«
Dr. Wasserstein nahm ihre Kapuze herunter und schüttelte sich den dunklen Bubikopf.
Delorme hatte irgendwie mit grauem Haar und Brille gerechnet, doch die Kuratorin war nicht älter als sie, vielleicht sogar ein, zwei Jahre jünger, mit dunklen Augen und perfekter Haut. Unter dem Schutzhemd trug sie eins von diesen gestreiften T-Shirts, wie man sie an französischen Fischern sah.
Während der Kaffee eingegossen wurde, erklärte Delorme, was ihr Anliegen war.
»Sie haben zwei Morde? Und Sie haben eine Verbindung zu kanadischen Ureinwohnern vermutet?«
»Möglicherweise steckt ein Ureinwohner mit drin. Frank Izzard von der OPP glaubt allerdings, diese Symbole hätten etwas mit Voodoo zu tun.«
»Ich kenne Frank. Ist das alles, was er Ihnen gesagt hat?«
»Er meinte, Sie könnten die Sache für uns näher eingrenzen.«
Dr. Wasserstein blickte aus dem Wohnwagenfenster. Draußen gingen ihre Kollegen weiter ihrer Arbeit nach, stumme Gestalten in diesem milden Licht. Delorme beneidete sie und empfand einen Anflug von Wehmut, dass sie an diesen Ort schweigsamer Forschungsarbeit als Störenfried kam. Dr. Wasserstein drehte sich wieder zu ihr um und betrachtete sie eindringlich aus ihren dunklen Augen.
»Wissen Sie, viele Menschen erliegen dem Irrtum, Voodoo sei eine gewalttätige Religion. Ist es aber nicht. Ich meine, sicher, sie töten Ziegen und Hühner und so und verwenden das Blut bei ihren Ritualen, aber die Tiere werden nicht schlimmer behandelt als die, die wir täglich essen. Vermutlich sogar um einiges besser. Haben Sie in der Nähe der Leichen Tierknochen gefunden?«
»Ich würde Ihnen lieber erst etwas über die Leichen erzählen, nachdem Sie sich etwas anderes angeschaut haben. Ich möchte Sie nicht in irgendeine Richtung beeinflussen.« Delorme zog die Fotos mit den Hieroglyphen heraus. »Können Sie mir irgendetwas darüber sagen?«
Dr. Wasserstein nahm die Bilder und sah sie sich im Licht des Fensters an.
»Oh, die sind
interessant
. Die hab ich noch nie außer in den Fachzeitschriften gesehen. Die haben Sie in Algonquin Bay gefunden?«
»Im Wald, nicht weit von der Stadt. Wir wissen, dass sie nicht alt sind.«
»Nein, bestimmt nicht. Nicht in dieser Hemisphäre.«
»Was können Sie uns darüber sagen?«
»Also, die sind nicht indianisch, das gleich vorneweg. Das hat Ihnen Frank Izzard sicher auch schon gesagt.«
»Ja.«
»Haben Sie in der Nähe dieser Zeichen Muscheln gefunden? Winzige Muscheln? Vielfarbige?«
»Ja, haben wir. Wieso fragen Sie?«
»Das sind keineswegs Hieroglyphen, diese Einkerbungen. Diese Zeichen halten eine Zukunftsvorhersage fest. Eine Hexe, ein Priester oder Schamane – was Ihnen lieber ist – sagt die Zukunft voraus, indem er Kaurimuscheln wirft und ihr Muster liest. Diese Zeichen, diese Pfeile, die in verschiedene Richtungen weisen, geben bestimmte
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