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Kalter Mond

Kalter Mond

Titel: Kalter Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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März hinein und Schneefall bis Ende April. In einem gewöhnlichen Sommer konnte man fast über das Flüsschen springen, doch diesmal fasste sein Bett die Wassermassen nicht mehr.
    Cardinal hastete den Pfad hinauf, in Richtung des Tümpels, der sich, wie er wusste, am nächsten Kamm befand. Die »Insel« – wenig mehr als ein Stück nackter Fels, der aus dem Wasser ragte –, der Treffpunkt mit Delorme, war ein Stück höher gelegen. Je näher er zum Kamm vordrang, desto lauter wurde das Zischen, bis es wie das statische Rauschen eines Radios klang. Die Wasserfälle. An die Nishinabe Falls hatte er überhaupt nicht gedacht. Cardinal blieb stehen.
    In den meisten Jahren ist der Nishinabe Creek zu klein, um sich eines richtigen Wasserfalls zu rühmen. Das Becken wird dann von einem Rinnsal gespeist – von ungefähr der Menge, wie bei einem sommerlichen Gewitter aus der Dachrinne herunterkommt. Dieses Jahr dagegen hatten die schweren Schneefälle die Stelle in einen gläsernen Vorhang aus Wasser verwandelt, das über die Felsen stürzte und auf die höhlenartige Nische dahinter prasselte. Cardinal zog sich den Kragen eng um den Hals und ging weiter.
    Hatte das statische Rauschen Red an diesen Wasserfall erinnert? An etwas, das sie hier oben in Angst und Schrecken versetzt hatte? Das Wasser schäumte und sprühte zu Cardinals Füßen. Weiter draußen im Becken war es schwarz wie Onyx. Eine Mücke stach ihn in die Kopfhaut, und er verpasste sich versehentlich eine schallende Ohrfeige. Er wollte am liebsten nur noch den Hügel hinauf, Delorme finden und diesen Miniaturvampiren entrinnen, doch das deutliche Gefühl, dass Red – vielleicht auf der Suche nach irgendetwas, vielleicht auch gegen ihren Willen – hier gewesen war, hielt ihn zurück.
    Als er vor ein paar Jahren hier hochgewandert war, hatte Cardinal den Fluss von Stein zu Stein überquert, doch jetzt lagen die Felsen unter der Gischt. Zum Glück hatten sich in der Nähe Biber nützlich gemacht und eine Birke übers Wasser gespannt. Cardinal trat auf den Stamm, der unter seinen Füßen wegbrach. Weiter oben war er stärker. Cardinal fand sicheren Halt unter den Sohlen und balancierte langsam über den Fluss. Als ihn eine Mücke am Hals erwischte und er danach schlug, verlor er fast das Gleichgewicht.
    Sobald er nah genug war, sprang er auf festen Boden und zahlte es den Plagegeistern wütend heim, indem er sich an den Hals, ins Gesicht und auf den Schädel klatschte. Die Erkenntnis, dass er sich lächerlich machte, auch wenn ihn keiner sah,verstärkte nur seinen Zorn und Frust. Er stieg über einige Felsbrocken und stand schließlich an dem Becken mit dem Wasserfall. Er trat unter den Überhang und hatte im selben Moment den ekelhaften Geruch von verwesendem Fleisch in der Nase.
    Cardinal schob sich vorsichtig zwischen Felsen und Wasservorhang. Wieder blieb er stehen und lauschte. Die Kriebelmücken hatten ihn, vom Sprühwasser verschreckt, endlich aufgegeben.
    Etwas ganz anderes erregte Cardinals Aufmerksamkeit. Die Granitwand hinter ihm war nicht unberührt. Was er sah, waren jedoch keine Graffiti, sondern lange Hieroglyphenspalten. Sie sahen archaisch aus, doch Cardinal wusste, dass sie vor zwei Jahren noch nicht an dieser Stelle gewesen waren.
    Es waren Piktogramme von etwa sieben bis zehn Zentimeter langen Pfeilen, die sich in eigentümlichen Mustern überschnitten. Andere wiederum waren zu Bündeln gerafft, aus denen ein langer Pfeil herausragte, als weise er eine Richtung. An den Felsrändern entlang waren Monde in unterschiedlichen Phasen gezeichnet – Voll-, Halb-, Viertel-, Neumond – und allenthalben Zahlen in bunter Kreide.
    Cardinal trat vom Fels zurück und bog um eine scharfe Kante. Der Geruch, der ihm von der anderen Seite entgegenströmte, war Ekel erregend. Er zog seinen Hemdzipfel heraus und bedeckte Mund und Nase.
    Was da am Boden der Höhle lag, besaß nur noch entfernte Ähnlichkeit mit einem Menschen. Es war eine männliche Leiche, nackt, mit muskulösen Armen und Beinen. Doch das sportliche Training hatte dem Mann nicht viel gebracht: ein bleicher Haufen Fleisch in einer dunklen, kalten Höhle. Wie auch immer dieser Mensch gelebt haben mochte, sein Tod war brutal. Hände und Füße fehlten ebenso wie der Kopf. Anden größten Wunden wimmelte es von Maden, die den Eindruck erweckten, als sei der Leichnam in Bewegung.
    Cardinal hörte ein Geräusch und wirbelte herum.
    Delorme starrte hinter dem Granitvorsprung hervor auf die

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