Kalter Mond
Cardinal. »Sie haben Langeweile, Sie sind verwirrt wegen Ihrer Probleme mit dem Gedächtnis, und Sie haben Angst, Fragen zu stellen. Vor ein paar Tagen haben Sie noch überhaupt nichts empfunden. Ich würde sagen, Sie machen Fortschritte.«
»Und hier sind Sie sicher«, sagte Delorme. »Vor Ihrer Tür steht ein Riese von einem Polizisten, und wir werden alles tun, um die Person zu fassen, die Ihnen das angetan hat.«
»Danke.«
»Wir gehn dann besser wieder«, sagte Cardinal. »Dr. Paley wollte noch mal mit uns reden.«
»Er scheint sehr zuversichtlich zu sein«, sagte Delorme zu der jungen Frau. »Versuchen Sie also, sich nicht zu viele Sorgen zu machen.«
»Wie denn auch?«, sagte das Mädchen mit einem schwachen Lächeln. »Ich kann mich ja nicht mal daran erinnern, worüber ich mir Sorgen machen soll.«
Dr. Paley wartete bereits im Personalaufenthaltsraum weiter den Flur entlang. Es gab einen Kühlschrank, eine Mikrowelle und ein paar Plastikstühle um einen Tisch. Die blaue Mattscheibe des Fernsehers leuchtete hoch oben auf einem Gestell an der Wand. Dr. Paley schob ein Video in das dazugehörige Gerät und setzte sich neben Cardinal und Delorme. Er richtete die Fernbedienung auf den Bildschirm, und das Video surrte los.
»Ich werde nicht das ganze Ding abspielen«, sagte er. »Also, ich hab es eingeleitet, indem ich den Fotonarren gespielt habe – was stimmt, nebenbei gesagt – und ihr ein paar von meinen Lieblingsfotos gezeigt habe. Es sind Aufnahmen rund um Algonquin Bay – Stellen, die jeder Ortsansässige erkennen würde. Ich hab meine Frau und meine Kinder posieren lassen, damit die Bilder nicht gar so offensichtlich als Gedächtniskrücken rüberkamen.«
»Wie sollen wir erkennen, welche sie sich gerade anschaut?« Dr. Paley klickte auf die Fernbedienung und hielt das Bild, das sie gerade sahen, an. Sie hatten eine Weitwinkelaufnahme von ihm selbst und Red vor sich, mit dem Blickwinkel auf die junge Frau. In der linken oberen Ecke befand sich ein kleineres Bild von der Tochter des Arztes in einem roten Schneeanzug, die vor dem Bogen mit der Aufschrift »Tor zum Norden« stand.
»Ich benutze ein Bild-im-Bild-System. Man sieht darauf das, was sie vor sich hat, in dem kleinen Feld. Sie werden feststellen, dass sie diesem Bogen keine besondere Beachtung schenkt.«
Er drückte wieder auf die Fernbedienung. Auf der Bildfläche fragte der Rotschopf höflich nach dem Alter des Kindes.
Der Torbogen verwandelte sich in eine Aufnahme von der Kathedrale.
»Genau wie eben, sehen Sie?« Dr. Paley wies auf seine Patientin.»Sie ist höflich. Freundlich gesinnt, fragt nach den Kindern und so weiter. Aber nichts an ihrer Reaktion lässt darauf schließen, dass sie die Kirche kennt.«
Auf der Mattscheibe lächelte das Mädchen. Als Nächstes wurde ein triumphierender Sechsjähriger eingeblendet, der im staatlichen Hafen – einem örtlichen Wahrzeichen – einen eben gefangenen Fisch in die Höhe reckt. Im Hintergrund ragt der weiße Rumpf der »Chippewa Princess«, eines Kreuzfahrtschiffs, auf.
»Keine Veränderung, stimmt’s?«
»Das sind nun wirklich die Stellen, die einem zu Algonquin Bay einfallen«, sagte Cardinal. »Aber dass sie die nicht erkennt, muss nicht heißen, dass sie nicht von hier ist, oder? Es kann auch einfach nur heißen, dass ihr Gedächtnis sich bisher noch nicht regt.«
»Richtig«, sagte Dr. Paley. »Aber sehen Sie sich das Folgende genau an.« Er drückte auf Vorlauf, und das Bild wurde verschwommen und verzerrt. Sie warteten einige Minuten, in denen er die Zahlen verfolgte, die am unteren Bildrand weiterspulten. Das Video hielt mit einem dumpfen Geräusch an. »Da ist es. Ich zeig ihr meinen Panoramablick vom Beaufort Hill.«
»Ah ja, da ist der alte Feuerwachtturm«, sagte Delorme. Ein schmaler Feldweg, der hinaufführte, entfernte sich von einer Reihe von Masten, so dass beides zusammen ein längliches Y bildete.
»Wie Sie sehen, bleibt sie stumm, aber schauen Sie sich die Falte zwischen ihren Augenbrauen an. Sie hebt die Hand und will etwas sagen …«
Plötzlich war nur noch Schnee auf dem Bildschirm zu sehen und ein lautes statisches Zischen – fast ein Brausen – zu hören. Das Mädchen riss die Augen auf, und ihre Hand flog an den Mund.
»Was ist?«, fragte Dr. Paley auf dem kleinen Bild. »Stimmt was nicht?«
In dem Moment wurde ihr Gesicht wieder ausdruckslos, der Schrecken war verflogen.
Noch einmal fragte Dr. Paley, was sie hätte.
»Nichts«, sagte
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