Kalter Mond
wollte.«
Diese Stimme. Gib mir meine Tochter zurück!
»Mom ist im Moment nicht da. Sie ist mit ihrem Kurs nach Toronto gefahren.«
»Wann kommt sie zurück?«
»Übermorgen.«
»Okay, dann ruf ich in ein paar Tagen noch mal an.«
»Bleib einen Moment dran, Kelly. Wie läuft denn alles so bei dir?«
»Gut.«
»An der Kunstfront Glück gehabt?« Cardinal bereute die Frage, kaum dass sie ihm rausgerutscht war.
»Das Whitney steht nicht gerade Schlange bei mir, wenn du das meinst.«
Cardinal hatte keinen Schimmer, was das Whitney war. »Ich meinte nur, kommst du mit deiner Arbeit gut klar, und macht sie dir Spaß?«
»Alles bestens.«
»Und hast du wenigstens ein paar Kontakte, Leute, die dich fördern können?«
»Ich muss los, Dad. Wir wollen ins Kino.«
»Ach so. Was seht ihr denn?«
»Keine Ahnung, irgend so ’n Streifen mit Gwyneth Paltrow.«
»Und bist du bei Kasse? Brauchst du Geld?«
»Ich hab einen Job, Dad. Ich kann selber für mich sorgen.«
»Ich weiß, aber New York ist ein teures Pflaster. Falls du Hilfe brauchst, kannst du jederzeit …«
»Ich muss dann mal, Dad.«
»Okay, Kelly, okay.«
Sie legte auf.
Cardinal stellte das Telefon auf die Basis und starrte auf den Ofen.
»Toller Schachzug«, sagte er laut. »Diesmal hast du sie wirklich rumgekriegt.«
Später im Bett versuchte Cardinal zu lesen – ein Buch mit wahren Kriminalgeschichten, das Delorme ihm empfohlenhatte –, aber die Worte verschwammen ständig vor seinen Augen und wurden durch Gedanken an Kelly von der aufgeschlagenen Seite verdrängt. Er hasste den Gedanken, dass sie auf einem so unbarmherzigen Terrain wie New York die Miete zusammenkratzen musste. Andererseits konnte er nachvollziehen, wieso sie ihn auf keinen Fall um Geld bitten wollte, und dieses Verstehen saß ihm wie ein scharfer Gegenstand irgendwo zwischen den Rippen.
Nach und nach wanderten seine Gedanken zu Mrs. X. Der Rotschopf war etwa in Kellys Alter, wenn auch, wie es schien, weniger gebildet. Sogar irgendwie unschuldig und wie von einer anderen Welt. Natürlich konnte das auf ihre Hirnverletzung zurückzuführen sein. Wer konnte sie töten wollen? Ein eifersüchtiger Liebhaber? Ein paranoider, besitzergreifender Versager, der es nicht ertragen konnte, dass diese grünen Augen einen anderen Mann ansahen? Kaum vorstellbar, wie sie den Viking Riders hätte in die Quere kommen sollen.
Vor dem Einschlafen verfolgten zwei Bilder Cardinal: Mrs. X mit ihrer blassen Haut und dem leuchtend roten Haar, das sich auf dem ganzen Kopfkissen ausbreitete. Und die Röntgenaufnahme von ihrem Kopf, der Kugel in ihrem Gehirn.
14
R ed lag im Krankenhauspyjama im Wintergarten ihrer Station, einen iPod im Ohr, der sie mit Musik zudröhnte. Sie hatte den Polizisten, der vor ihrem Zimmer wachte, gebeten, ihr nicht zu folgen, doch er hatte es trotzdem getan. Sie konnte die Umrisse seiner massigen Schulter hinter dem Türrahmen sehen.
Dr. Paley hatte ihr den iPod geliehen, voll mit heruntergeladener Musik aus dem Internet. Das war ein freundlicher Mann, Dr. Paley. Sah man schon an seinem rundem Gesicht und seiner glänzenden Glatze und den Lachfältchen an den Augen. Dr. Paley schien ein Mensch zu sein, der nur an andere dachte.
Red wusste, dass seine Besuche dazu dienten, ihre Erinnerungen herauszukitzeln. Doch der Arzt machte das so geschickt und in einer so liebenswürdigen Art, dass die Zeit, die sie miteinander verbrachten, ganz und gar nichts Klinisches an sich hatte. Es war, als schaute ein vergnügter guter Onkel vorbei, um Hallo zu sagen. Und die Musik war gut. Eine Band namens Rocket Science schmetterte aus Leibeskräften »Run, Run, Run«, und Red konnte nicht anders, als mitzusingen.
Dennoch war es tödlich, auf einer Station zu sein, in der es von fehlgeschlagenen Selbstmordversuchen nur so wimmelte. Sie hatten drei junge Mädchen (einmal aufgeschnittene Pulsadern, zweimal Überdosis), eine Phalanx an gepiercten Kussmäulern, die ständig verlangten, zum Rauchen rauszudürfen, was für alle anderen wirklich lästig war, da sie die Station nur in Begleitung eines Mitarbeiters verlassen durften. Die übrigeZeit lagen sie in ihren Betten, lasen
Teen People
und fanden alles öde. Es gab auch einen Jungen, noch ein paar Jährchen jünger als die Mädchen. Ab und zu erbarmte sich eine Schwester und gab ihm Medikamente. Wonach der Junge für ein paar Stunden den Geist aufgab, dafür aber mitten in der Nacht aufwachte und zu weinen begann. Letzte Nacht war
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