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Kalter Mond

Kalter Mond

Titel: Kalter Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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Er hat sich zuallererst um den Polizeischutz für Sie gekümmert.«
    »Alle, die Sie nennen, werden dafür
bezahlt
, dass sie sich um mich kümmern.«
    »Das heißt nicht, dass ihnen nicht auch daran liegt.« Er deutete auf den iPod auf ihrem Nachttisch. »Sie mögen Musik. Ganz unterschiedliche Richtungen. Diese Musiker werden für ihre Konzerte, ihre Aufnahmen bezahlt. Glauben Sie deshalb, ihnen ist egal, was sie spielen?«
    »Natürlich nicht. Aber wer möchte schon anderer Leute Job sein?«
    Der Arzt berührte ihren Unterarm und beruhigte sie.
    »Ihre Emotionen kommen wieder – das ist ein sehr gutes Zeichen. Genauso wird Ihr Gedächtnis wiederkommen. Aber versuchen Sie nicht, etwas zu erzwingen. Wenn Sie das nächste Mal merken, wie Ihnen eine Erinnerung kommt, atmen Sie ein paarmal langsam tief durch. Versuchen Sie zu entspannen, und lassen Sie sich die Zeit, die es eben braucht.«
    Doch Rocket Science ging ihr wirklich unter die Haut. Zuerst dachte sie, es sei nur der Song als solcher, dieser sehnsüchtige Chor. Doch dann stellte sich erneut diese Sogwirkung ein. Am liebsten hätte sie alles angehalten und Alarm geschlagen, doch sie beherzigte Dr. Paleys Rat. Sie versuchte, sich nicht zu sehr aufzuregen.
    Es war stickig im Wintergarten. Red stand auf und ging in ihr Zimmer zurück, gefolgt vom schweren Schritt des wachhabenden Polizisten. Sie schloss die Tür und warf sich aufs Bett. Sie drehte sich auf die Seite und machte die Augen zu, den iPod an die Brust gedrückt. Sie atmete tief und langsam ein und befahl ihrem Körper, sich zu entspannen. Sie drückte auf Stop und dann auf Repeat.
    Der Song setzte von neuem ein. Die erste Erinnerung, die kam, war weder Bild noch Klang, nur ein schreckliches Gefühl des Verlorenseins. Nur dieses Gefühl, dann ein verschwommenes Bild. Etwas in Graugrün. Sie hörte gerade »Run, Run, Run«. Ganz langsam nahmen die verschwommenen, wirbelnden Formen konkrete Gestalt an: ein Highway, ein Highway draußen im Westen mit vorbeiflitzenden Bäumen.
    Sie wurde irgendwohin gefahren. An einen traurigen Ort. Eine tiefe Sorge zerriss ihr das Herz. Sie wusste, dass es diesmal eine Erinnerung war und kein Traum, sie konnte nur noch nicht sagen, woran.
    Andere Bilder bedrängten sie. Ein Paar im mittleren Alter am Strand, auf Liegestühlen neben einer Kühlbox, aus der eine Colaflasche lugte. Ein kleiner See, das Wasser von der Tiefe fast schwarz. Ihre Mutter, die sich aufsetzt und in die Sonne blinzelt, bevor sie den See nach ihren Kindern absucht. Dann das dunkle Grün einer Hecke, der Geruch von Klette, ein »Baumhaus«, das sie in einer gigantischen Hecke gebaut hatte. Wie alt war sie da – acht, neun?
    Die Schlittschuhbahn, die ihr Vater mit dem Gartenschlauch machte. Wie ihre Füße brannten und kribbelten, wenn sie in die Küche kam und ihre Schlittschuhe auszog. Schnee, der die Zweige der Bäume herunterdrückte, und ein wilder Himmel über den Hügeln.
    Ihr Fahrrad, ihr Hund, ihre Erstkommunion. Klavierunterricht bei den Nonnen. Ballett. Pfadfinderinnen. Wie sie mit zwölf nach dem Abendessen von zu Hause wegläuft, eine vorpubertäre Rebellion, die gerade mal drei Stunden währt. Die Erinnerungen blitzten vor ihrem geistigen Auge auf, waren jetzt nicht mehr zu bremsen.
    »Oh Terri«, hatte ihre Mutter geweint, als sie wieder zurückkam. »Oh Terri, Gott sei Dank, dass du wieder zu Hause bist.«
    Und jetzt erinnerte sie sich wieder an dieses Zuhause. Jetzt sah sie aus dem Fenster – auf die Eisenbahngleise, die Schule, den Kirchturm, der wie Platin blitzte, und auf den blauen See in der Ferne. Sie war nicht zum ersten Mal hier, sie hatte hier in Algonquin Bay gelebt, sie war nicht nur eine Besucherin, kein Geist. Heute wohnte sie nicht mehr hier, das war früher gewesen, mit Mom und Dad und ihrem Bruder. Anschließend Vancouver.
    Terri. Ich heiße Terri Tait, ich bin aus Vancouver, British Columbia, und siebenundzwanzig Jahre alt.
    Dann wieder dieser Highway, die vorbeirasenden Bäumeund dieser Schmerz in der Brust. Sie hatte sich die Seele aus dem Leib geheult. Sie hatte jemanden besuchen wollen. Ihren Bruder. Ihr jüngerer Bruder war ins Gefängnis gekommen, und sie hatte ihn zum ersten Mal besucht.
    »Kevin«, sagte sie laut. »Du heißt Kevin.«
    Jetzt konnte sie sich an ihn erinnern. Sie standen sich nahe, auch wenn sie schon ziemlich lange nicht mehr im selben Haus gewohnt hatten.
    Ach Kevin, du steckst mir wie ein Pfeil im Fleisch, und ich sag dir ständig, was du tun

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