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Kalter Mond

Kalter Mond

Titel: Kalter Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
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Red um drei Uhr früh hochgeschreckt, und davor um zwei, weil das Schluchzen und Jammern des Jungen wie der Geist der Tristesse aus einer Geschichte von Edgar Allan Poe schwerelos durch die Flure hallte. Und wieso bitte schön kann ich mich an Edgar Allan Poe erinnern und nicht an meinen eigenen Namen?
    Langeweile, Rastlosigkeit, Zukunftsangst – Reds Rückkehr der Gefühle erwies sich als steiniger Weg. Manchmal vermisste sie die blanke Indifferenz der ersten Tage, so wie sich ein nervöser Mensch nach Valium sehnt. Und was war mit Glück? Vergnügen? Liebe? Wann würde sie wieder positive Emotionen erleben?
    Ihr Gedächtnis versagte immer noch, auch wenn sie ein paar Momente hatte, in denen Erinnerungen dicht unter der Oberfläche waren.
    Zweimal hatte sie so etwas wie vertraute Identität ganz dicht neben sich gespürt, so wie ein Blinder vielleicht die Nähe einer vertrauten Person erahnte. Es war, als »entdeckte« man eine weltbewegende Wahrheit im Traum, nur um hilflos zuzusehen, wie sie einem beim Erwachen wieder entgleitet.
    Zur ersten dieser Identitätserfahrungen kam es, als eine Schwester einen Blumenstrauß brachte. Die Karte war von »Ihrem neuen Freund, Dr. Paley«. Eine Sekunde lang hatte sie ein Hochgefühl, als sie sich erinnern konnte, wer Dr. Paley war. Sie vergaß die Leute nicht mehr in dem Moment, in dem sie den Raum verließen. Und dann hatte Red sich einen Moment lang gefragt, ob der Arzt verliebt in sie war. Abernatürlich versuchte er nur, ihrem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. Der Duft der Lilien war wie ein Sog, der sie in die Tiefen eines lange zurückliegenden Erlebnisses zog. Sie wusste, dass er sie an etwas erinnerte. Doch es stellte sich nichts Konkretes ein – kein Klang, kein Bild, nur dieses ungeduldige Zerren an ihren Gefühlen.
    Das letzte Mal, dass Dr. Paley vorbeigekommen war, hatte er ihr in seiner nonchalanten Art zugewunken und sich auf den Stuhl neben ihrem Bett plumpsen lassen. Er fing sofort zu plaudern an, doch das Gespräch war überlagert vom Duft seines Aftershaves. In Reds Kopf stellte sich unumstößliche Gewissheit ein: Sie wusste, dass sie es schon mal gerochen hatte. Die Komposition aus Zitrus und Holz mit einem zarten Duft nach Moos war ihr zutiefst vertraut, aber woher? Sie musste wie elektrisiert ausgesehen haben, denn Dr. Paley hatte sich mitten im Satz unterbrochen.
    »Versuchen Sie, sich zu entspannen«, sagte er sanft. »Sie dürfen nichts erzwingen, das kommt von selbst.«
    Dieser zitronige Duft, dieser Hauch von Eiche und Leder, wo hatte sie das schon mal gerochen? An wen erinnerte sie das?
    »Ich hab’s gleich«, stöhnte sie. »Es ist greifbar nahe, ich hab’s vor meiner Nase, aber ich kann’s nicht sehen.«
    »Das kommt schon«, sagte Dr. Paley wieder. »Wahrscheinlich schneller, als Sie denken.«
    Red hatte ihn plötzlich angeschrien, hatte nichts dagegen machen können.
    »Ich will nicht einen Monat warten. Oder ein Jahr. Oder auch nur bis morgen, Dr. Paley.«
    »Hören Sie, es geht Ihnen schon viel besser. Vor zwei Tagen hätten Sie noch nicht diese Emotionen empfunden.«
    »Ich will mich aber nicht so fühlen! Können Sie sich vorstellen, wie man sich vorkommt, wenn man nicht weiß, werman ist? Haben Sie auch nur die geringste Ahnung, wie das ist?«
    »Nein«, sagte er. »Sie haben recht, das kann ich nicht nachvollziehen.«
    »Ich weiß nicht, woher ich stamme oder wer ich bin oder wo ich hingehöre. Vielleicht bin ich jemand mit einer Krankenhausphobie. Vielleicht lebe ich in einer Großstadt wie London oder New York. Ich trage keinen Ring, aber ich weiß nicht mal, ob ich verheiratet bin.« Sie schlug mit den Händen aufs Bett. »Und wo ich hier bin, da gehöre ich nicht hin. Ich bin nicht krank. Ich bin nur halb am Leben, ich bin ein Geist, kein Mensch. Ein Mensch hat eine Vergangenheit, eine Geschichte, eine Identität. Ich fühle mich so verloren! Ich bin wie ein Klumpen Fleisch, und niemand interessiert sich dafür, ob ich lebe oder sterbe.«
    »Das stimmt nicht«, sagte Dr. Paley. »Ich hege nicht den geringsten Zweifel, dass, sobald Sie Ihr Gedächtnis wiederhaben, Menschen auf der Bildfläche erscheinen, die Sie lieben und Gott dafür danken werden, dass Sie leben und in Sicherheit sind.«
    »Das wissen Sie nicht. Sie versuchen nur, mich zu beschwichtigen.«
    »Ganz und gar nicht. Ich bin mir absolut sicher. Und bis dahin gibt es hier Menschen, denen Sie am Herzen liegen: die Ärzte und Schwestern. Mich. Detective Cardinal.

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