Kalter Mond
sagte Delorme. »Nicht sehr wahrscheinlich, dass der Mörder hier im Wagen gesessen und gewartet hat, bis das Opfer vorbeispaziert kommt. Die beiden – oder vielleicht auch mehr, das können wir wohl im Moment noch nichtsagen – aber die beiden sind wegen irgendwas hier rausgekommen. Dann geraten sie wegen irgendwas in Streit, und der eine Kerl bringt den anderen um.«
»Eine Kugel im Hinterkopf sieht mir nicht nach einer spontanen Sache aus«, sagte Cardinal.
»Das stimmt. Hat mehr was von einer Hinrichtung.«
»Reifen«, sagte Collingwood in gewohnter Gesprächigkeit. Er setzte sich auf die Fersen zurück, damit sie den weißen Fleck auf dem Boden sehen konnten, an dem er gerade arbeitete. Dann hob er die Gipsform hoch und drehte sie um, so dass ein perfektes Reifenprofil zu sehen war.
»Saubere Arbeit«, sagte Cardinal. »Bleibt nur zu hoffen, dass es zum Wagen des Mörders und nicht irgendeines Poliers gehört.«
Arsenault, der in einiger Entfernung gearbeitet hatte, kam mühsam auf die Beine und stöhnte übertrieben beim Knirschen in seinen Knien. Er hielt eine winzige Plastikphiole hoch und wedelte damit, als sei Cardinal ein Hund, dem er ein Stöckchen werfen wollte.
»Schon gut, Sherlock«, sagte Cardinal, »was haben wir denn Schönes?«
»Sehen Sie selbst, Mann. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gut ich bin.«
Cardinal schaute angestrengt auf die Phiole. Sie enthielt ein winziges, hauchdünnes weißes Häutchen.
»Ist das eine Madenhülse?«, fragte Cardinal. »Was ist so toll daran?«
»Die Entfernung vom Fleisch«, sagte Arsenault. »Maden fallen irgendwann von einer Leiche ab. Manche Arten, zum Beispiel Käsemaden, springen sogar von einer Leiche weg, so dass sie ungefähr einen Meter weiter landen können. Aber dieses Schätzchen hier liegt in einer Entfernung von zwei Meter fünfzig, genau in einem Fußabdruck.«
»Ich hoffe, Sie wollen damit nicht sagen, dass einer von uns in Maden getreten ist und sie hierher geschleppt hat.«
»Nö. Der Fußabdruck ist tief, wahrscheinlich von einem Wanderschuh. Keiner von uns hat so was an, und keiner von uns ist auf diesem Weg zur Leiche und wieder zurückgegangen. Das wird das Video bestätigen.« Er deutete zur Kamera auf einem Stativ, an der ein rotes Lämpchen pulsierte.
Cardinal betrachtete den Fundort noch einmal ganz genau. »Sie haben recht. Und den Reifenspuren nach müsste hier das Heck gewesen sein. Der Kofferraum. Derjenige, der ihn getötet hat, muss hier herum noch einmal nach hinten gegangen sein und sich dann hinters Lenkrad gesetzt haben. Aber wieso hat er eine Madenhülse an seinem Schuh?«
»Genau das frage ich mich auch«, sagte Arsenault. »Weshalb ich dieses Schätzchen hier in seiner eigenen Limousine zu Dr. Chin mitnehmen werde.«
»Neulich wollten Sie nichts von Dr. Chin wissen.«
»Offensichtlich lerne ich dank Ihrer Führungskraft und Inspiration dazu. Der Kerl hat Eindruck auf mich gemacht, okay?«
Cardinal warf einen letzten Blick auf den Fundort als Ganzes und trat näher an die Leiche heran. Er hatte offenbar leise aufgestöhnt oder geflucht, denn Delorme sagte: »Kannst du laut sagen. Ziemlich übel, nicht?«
Das Trauma an Gesicht und Kopf war brutal. Das halbe Schädeldach war zertrümmert.
»Ich frag mich, was er zuerst gemacht hat«, sagte Cardinal. »Geschossen oder dem Opfer auf den Kopf geschlagen?«
»Macht das einen so großen Unterschied?« Delorme hatte zu lange mit Schreibtischtätern zu tun gehabt; Cardinal mahnte sich zur Nachsicht.
»Wenn Sie ihm eins überziehen und ihn dann erschießen«, sagte er, »haben Sie es mit
einem
Tätertyp zu tun. Wenn Siezuerst auf ihn schießen und ihm danach den Schädel einschlagen, was sagt das über Sie?«
»Dass ich äußerst bösartig bin …« Delorme sah Cardinal mit einem fragenden Blick aus ihren braunen Augen an. »Oder vielleicht eine fehlerhafte Waffe habe?«
»Ich wette, beides stimmt.«
27
M ord kommt in Algonquin Bay so selten vor, dass die Ermittler, wenn es mal einen gibt, dem Opfer nicht von der Pelle weichen. Sicher, sie konnten die Leiche einfach nach Toronto überführen. Sicher, sie konnten sich den Autopsiebericht telefonisch durchgeben lassen. Dasselbe galt für die Ballistik und andere Beweismitteluntersuchungen. Das Problem dabei war nur, dass es auf diese Weise noch länger dauerte als die acht Fahrstunden nach Toronto und zurück. Aus ihrer langjährigen Erfahrung beim Sonderdezernat hatte Delorme gelernt, dass bei einer
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