Kalter Mond
Freund eben, keine Ahnung, von wem. Ist doch auch egal.«
Sie warf den Motor an und bog in die Gerard Street ein. Fünf Minuten später fuhren sie auf dem Gardiner Expressway aus der Stadt. Der Lake Ontario funkelte strahlend blau und silbern in der Sonne. Die wenigen Wolken waren unglaublich weiß. Gloria öffnete alle Fenster und das Verdeck, so dass ihnen die Haare um die Ohren flogen. Raymond brauchte gar nicht erst zu fragen, von wem sie den Wagen bekommen hatten. Er war von Oggun. Oggun hatte ihnen dieses Auto geschenkt, genau wie Victor es ihm befohlen hatte.
Mit der Zeit wurde Raymond im Tempel seines Onkels immer mutiger. In den folgenden Monaten und Jahren wies ihn Victor in die Kunst ein, die Geister zu beherrschen. Er erklärte ihm, man müsse, wenn man sich eine Seele holte, dem Opfer die größtmöglichen Schmerzen zufügen. Es musste tatsächlich schreien, wenn es starb, sonst bekam man keine Macht über seine Seele. Und zeigte man auch nur die geringste Furcht, dann würde am Ende der Geist einen selbst beherrschen.
Er zeigte ihm, wie man die Klauen oder Füße Zeh für Zeh abtrennte, damit der Geist würde greifen können; wie man die Füße abschnitt und sie in den
nganga
warf, damit der Geist in der Lage war, sich frei zu bewegen, und wie man schließlich dem Opfer in seiner letzten Agonie in die Augen sah und ihm sagte, dass man es sich aus der Hölle holen würde. Dann nahmman das Hirn und gab es in den
nganga
, damit der Geist in der Lage war, die Befehle des Medizinmannes zu verstehen, damit er denken konnte.
Die ersten paar Male musste sich Raymond übergeben; doch irgendwann war es so, wie Onkel Victor vorausgesagt hatte; er gewöhnte sich daran. Die Angst ließ nach, und bis er vierzehn war, empfand er überhaupt keine mehr. Hühner, Ziegen, Hunde, Katzen, am Ende war es egal. Raymond lernte, die brüllenden Tiere zu meistern und ihnen in die Augen zu starren, wenn sie starben.
Dann lehrte ihn sein Onkel, den Geist der Kreatur heraufzubeschwören, die man gerade geopfert hatte, ihn in seinen Dienst zu zwingen.
Die Zeit, erfuhr der einundzwanzigjährige Raymond, erhielt eine ganz neue Dimension, wenn man selber die Klinge zu spüren bekam. Das warme Blut war auf seinem Rücken verquollen, und ihm hämmerte der Kopf, so heftig biss er gegen den Schmerz die Zähne zusammen.
Sein Onkel nahm ihm die Augenbinde ab, und Raymond musste wegen der Kerzen, die in mehreren Reihen loderten, die Augen schließen. Dann nahm Victor ihm die Lederfesseln ab und setzte ihn auf einen Stuhl.
»Keine Sorge«, sagte Onkel Victor. »Die Wunden verheilen bald.«
Kühles Wasser spritzte über seinen Rücken. Sein Onkel betupfte ihn sanft. »Du hast nichts zu befürchten, weißt du. Vom ersten Moment an – damals, als du mir im Flur aufgefallen bist – brauchte ich dir nur in die Augen zu sehen, und ich habe zu Gloria gesagt: ›Ihr Sohn wird ein Priester werden, ein mächtiger Priester.‹«
Raymond erinnerte sich daran, doch der alte Mann wiederholte die Geschichte oft.
Onkel Victor rieb eine Salbe auf die langen Rillen, die er Raymond in den Rücken geschnitten hatte. Der Schmerz ließ ein wenig nach und wurde erträglich.
»Du brauchst dich vor nichts zu fürchten, Raymond. Glaube mir. Du wirst der mächtigste Priester auf Erden. Ein wahrer Seelensammler.«
Und dann tat Victor etwas Seltsames. Er kniete nieder und verneigte sich.
25
S tephen P. Russell kam nicht unvorbereitet – Strohhut gegen die Sonne, großes weißes Spezialhemd mit Kapuze und Gesichtsschutz gegen die Insekten, hochwirksames Insektenspray – er war für alles gewappnet. Als Algonquin Bays bestverkaufter Aquarellmaler hielt Stephen P. Russell sich etwas darauf zugute, ein Mann für alle Wetterlagen und jedes Terrain zu sein. Sein alter Volvo-Kombi war mit Stiefeln, Schirm, Regenmantel, Sandalen, Sonnenschutzmittel, Thermoskanne sowie dem gesamten Arsenal eines Amateurkünstlers voll gestopft: Staffelei, Pinsel, Farben und einem nicht allzu standfesten Klappschemel.
Birkengruppen waren sein täglich Brot, vorzugsweise Birken mit Schneehäufchen auf den Zweigen oder von den Blättern tropfendem Regen. Jedes Wochenende verkaufte er zwei, drei davon auf dem Bauernmarkt. Von den Einkünften konnte man zwar nicht leben, zum Aufbessern seiner Pension von der Schulbehörde reichten sie allemal. Besonders stolz war er auf seine Fähigkeit, den Platinschimmer auf den Blättern der Silberbirke wiederzugeben – genau den Effekt,
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