Kalter Mond
Darin befand sich eine faulige, geronnene Flüssigkeit mit undefinierbaren festen Bestandteilen, die darin schwammen.
»Nganga«,
sagte Victor. »Man nennt das hier
nganga
. Hier kommen die Dinge rein, die wir den Göttern darbringen. Wenn wir zum Beispiel von Oggun etwas wollen, dem Gott des Eisens, dann geben wir vielleicht einen Schienenbolzen hinein, oder auch ein paar große Nägel. Geht es um eine Gunst von Ochosi, dem Gott der Jäger, dann mag eine Pfeilspitze das Richtige sein.«
»Aber es gibt doch nur einen Gott, oder, Onkel?«
Das braune Gesicht wiegte sich nach links und rechts.
»Das ist eine völlig andere Religion. Ich lehre dich eine viel ältere, viel mächtigere Religion. In den christlichen Religionen, ja, da gibt es nur einen Gott. In Palo Mayombe gibt es viele. In diesen
nganga
kommen auch die Dinge, die wir brauchen, um die Geister zu beherrschen. Geistige Wesen, musst du wissen, haben keine Macht über Menschen, es sei denn, wir verleihen sie ihnen. Sie sind Gefäße, sie lassen sich hierhin und dorthin treiben, bis wir ihnen Macht verleihen. Wir – das heißt die Medizinmänner – geben ihnen Leben. Wir hauchen ihnen Atem ein und verleihen ihnen die Fähigkeit, zu sehen, zu hören, sich an bestimmte Orte zu begeben, Dinge zu greifen.« Victor öffnete die sehnige Faust und schloss sie wieder vor Raymonds Augen.
»Woher kommen die Geister?«
»Von Lebewesen. Tieren. Manchmal auch Menschen. Wir befördern sie auf eine Weise aus dieser Welt in die nächste, dass wir dort über sie gebieten. Dann müssen sie uns gehorchen. Sie arbeiten für uns, verstehst du. Verbanne alle Angst aus deinem Kopf und beobachte nur, was ich tue. Nur Medizinmänner haben dieses Recht, diese Macht. Und jetzt sei still. Verbanne alle Furcht und sieh einfach nur zu, was ich mache. Wir werden etwas Nettes für deine Mutter tun. Wir werden Oggun bitten, ihr etwas Hübsches zu bringen.«
Damit drehte sich Victor zum
nganga
um und breitete wie ein katholischer Priester über dem Altar die Hände aus. Er begann, in einer Sprache zu reden, die Raymond nicht verstand. Er wusste, dass es kein Spanisch oder Englisch oder Französisch war.
»Bahalo! Semtekne bakuneray pentol!«
Victor wandte sich zu Raymond um und sagte flüsternd, aber deutlich: »Du musst immer in festem Ton mit ihnen reden. Wir flehen nichtauf Knien wie die Christen und die Muslime. Wir
verlangen
etwas von ihnen, wir
geben ihnen Befehle.«
Victor hob noch einmal die Arme über den Kessel.
»Bahalo. Seeno temtem bakuneray pentol!«
Victor nahm das Beil von der Wand, packte das Huhn und trennte ihm mit einem einzigen Schlag den Kopf vom Hals. Er warf ihn in den Topf. Das kopflose Huhn zerrte an seiner Schnur und rannte hin und her, ohne zu merken, dass es nicht mehr am Leben war.
Raymond fing zu weinen an. Er versuchte aufzuhören, doch er konnte nicht; sein ganzer Körper bebte vor Schluchzen.
Victor packte das Huhn an den Klauen und löste die Schnur. So hielt er den sich immer noch wehrenden Körper über den
nganga
, und das warme Blut spritzte in die Flüssigkeit. Er sprach weitere unverständliche Worte, doch dann drehte er sich zu Raymond um und packte ihn an beiden Schultern. »Hör augenblicklich auf zu weinen, Raymond. Verstehst du? Hör auf zu weinen.« Die knöchernen Hände schüttelten ihn. »Wenn du Angst zeigst, gibst du den Geistern Macht über dich. Das darf nie geschehen. Sei jetzt still. Hol tief Luft und zeig ihnen, dass du die Situation beherrschst.«
Raymond gab sich alle Mühe, doch an diesem ersten Tag versagte er hoffnungslos. Als Raymond ein paar Tage später von der Schule kam, hatte Gloria gerade einen Kunden. Raymond ging direkt in sein Zimmer und versuchte, die Geräusche, die der Mann machte, nicht zu hören, und ebenso wenig die aufgesetzten ekstatischen Schreie seiner Mutter. Als der Mann gegangen war, trat Gloria ins Zimmer ihres Sohnes.
»Komm«, sagte sie. »Ich hab eine Überraschung für dich.«
Sie fuhren mit dem stinkenden Fahrstuhl in die Eingangshalle hinunter. Gloria nahm Raymond mit auf den Parkplatz hinaus und setzte ihn in einen brandneuen Honda Prelude. Erwar innen mit Leder und einem wundervollen Radio ausgestattet und roch mächtig nach neuem Auto. Alle Oberflächen blitzten in der Sonne. »Wie gefällt dir Mamis Honda?«
Raymond berührte das Lenkrad.
»Ist das nicht phantastisch?«, fragte sie. »Onkel Victor hat ihn mir von einem Freund besorgt.«
»Von wem?«, fragte Raymond.
»Einem
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