Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kalter Mond

Kalter Mond

Titel: Kalter Mond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Blunt
Vom Netzwerk:
an dem er gerade arbeitete.
    Eine stete Brise kräuselte die Blätter, so dass sie sich sträubten wie das Fell einer Katze. Neben den Birken wiegte sich eine Revueformation Kiefern, die der Maler allerdings nicht beachtete. Die würde er später mit einem transparenten Grün wiedergeben, hübsch verschwommen. Das war das Tolle an Wasserfarben – es war leicht, all das, was der Betrachter nicht sehen sollte, in großen Verläufen zu gestalten. Kiefern waren nun mal nicht Stephen P. Russells Ding.
    Die Pinselführung an den Birkenblättern kostete einige Mühe, einige Konzentration. Und seit einer ganzen Weile nun schon merkte der Maler, dass seine Konzentration schwankte. Gewöhnlich konnte er stundenlang vor sich hin arbeiten, an nichts anderes als sein Thema, seine Technik denken, doch heute hatte er seine Kanne Kaffee schon ziemlich früh ausgetrunken, und jetzt zwang ihn der Ruf der Natur zu einer Pause.
    Er wandte sich von der Staffelei ab und blickte über die hässliche Baustelle in seinem Rücken. Nein, er musste in die andere Richtung. Mit Mühe erhob er sich von dem kleinen Schemel – ach, die Wehwehchen der so genannten goldenen Jahre! – und trottete steif Richtung Gebüsch.
    Zuerst erkannte er nicht, was es war. Das Ding befand sich am Rand seines Blickfelds, und er sah es durch das Insektennetz. Er zuckte zurück, denn er dachte, jemand hätte ihn dabei erwischt, wie er sich im Freien erleichterte. Erst als er, vor Verlegenheit ganz heiß im Gesicht, den Reißverschluss hochgezogen hatte, drehte er sich noch einmal um und begriff, dass der Mann, der dort lag, überhaupt nichts gesehen hatte.

26
     
    A ls Cardinal am Leichenfundort eintraf, stieß er bereits auf eine kleine Polizistenschar. Ein blasser, hagerer Mann löste sich aus der Traube und machte sich daran, auf einem Klemmbrett ein Formular auszufüllen, das in der Brise immer wieder hochgewedelt wurde. Ein zweites Mal hatte Cardinal Glück: Diesmal war Dr. Miles Kennan der Coroner. Er riss das dünne oberste Blatt vom Formularblock ab und reichte es Cardinal.
    »Wir haben es hier zweifelsfrei mit einem Verbrechen zu tun, Detective.« Kennan hatte eine sanfte, hauchige Stimme. »Mit der besten Empfehlung ans Gerichtsmedizinische Institut.«
    »Todesursache«, las Cardinal vom Formblatt ab, »Schusswunde und/oder stumpfes Trauma?«
    »Werfen Sie selbst einen Blick drauf, dann wissen Sie, was ich meine«, hauchte Kennan. »Beides hätte ihn früher oder später umgebracht, aber Sie brauchen einen Pathologen, um zu entscheiden, was ihm letztlich den Garaus gemacht hat.« Der Arzt klatschte sich an den Hals. »Gott, wie ich diese Kriebelmücken hasse.«
    »Todeseintritt?«
    »Da müssen Sie die von der Gerichtsmedizin fragen. Ich würde mal davon ausgehen, dass er seit sechsunddreißig Stunden tot ist. Aber auch das ist nur eine grobe Schätzung.«
    »Gut. Danke, Doktor.«
    Cardinal schlüpfte unter dem Absperrband hindurch zu den anderen Kollegen. Arsenault und Collingwood krochen bereits, mit Beweismittelbeuteln bewaffnet, auf allen vieren.Delorme hatte das Handy am Ohr und wartete offenbar auf eine Verbindung.
    »Gerichtsmedizin?«, fragte Cardinal.
    Sie nickte.
    »Wer hat uns gerufen?«
    »Hiesiger Künstler. Der weiß nichts.«
    Delorme sprach ins Telefon. »In Ordnung, Len. Danke.« Sie beendete das Telefonat. »Ich hab Weisman gefragt, ob jemand von der Ballistik Überstunden machen kann.«
    »Es ist schon spät.«
    »Ja, hat Weisman auch gesagt.« Delorme zuckte die Achseln. »Dabei war er meinem Charme völlig erlegen.«
    »War er nicht. Charmeoffensiven verfangen nicht bei Len. Wissen wir schon, wen wir da vor uns haben?«
    »Leider Fehlanzeige. Keine Brieftasche, keine Papiere, kein gar nichts. Scheint Mitte bis Ende zwanzig zu sein, eins dreiundsiebzig groß, knappe siebzig Kilo. Sonst haben wir kaum was in der Hand.«
    »Hatte er gar nichts in den Taschen?«
    »Einen Zehn-Dollar-Schein, ein bisschen Kleingeld und eine Streichholzpackung von Duane’s Billiard Emporium.«
    Cardinal trat zurück und verschaffte sich einen Überblick. An der Stelle, wo der Weg aufhörte, befand sich dichtes Gestrüpp. Selbst Cardinal, der kein Forensiker war, konnte die frisch abgebrochenen Äste und Zweige sehen. Und um den Kopf des Opfers herum war viel Blut. Kleine Tropfen waren an die weißen Birkenstämme gespritzt. Eindeutig hier ermordet, nicht einfach nur abgeladen.
    »Ich kann mir noch kein klares Bild davon machen, wie das abgelaufen ist«,

Weitere Kostenlose Bücher