Kalter Schlaf - Roman
selbstbewusste junge Frau wie Molly hätte ihn sofort eingeschüchtert. Schon aus diesem Grund hat er sich bisher immer an viel jüngere Mädchen rangemacht.« Sie machte eine Pause, schüttelte den Kopf. »Nein. Wer Molly James entführt hat – falls es ein Fremder war –, ist ein ganz anderer Typ als Colley. Jemand, der eine kühne Entführung planen und erfolgreich durchziehen konnte. Und noch dazu am helllichten Tag. Sie war eine intelligente junge Frau. Wer tun wollte, was er geschafft hat, muss die Fähigkeit besessen haben, sie zu manipulieren – und genug Selbstsicherheit, um sie zu kontrollieren.«
Joe reckte die Arme kurz nach oben und ließ sie wieder sinken.
Kate sah von ihm zu Bernie. Die beiden schwiegen. Sie schaute zu der Glastafel mit dem Foto der jungen Frau, die mit Freundinnen ins Einkaufszentrum gegangen und nie mehr heimgekommen war. Molly schien ihren Blick in der nachmittäglichen Stille zu erwidern. Kate fragte sich, wie viele Sexualverbrechen unbestraft blieben. Sogar unentdeckt. Sie sah der jungen Frau in die Augen und dachte an die Nachricht, die Mollys Mutter erst heute erhalten hatte. Dass ihre Tochter zehn Jahre lang kaum eine Stunde von ihrem Haus entfernt verscharrt gelegen hatte.
Hab Geduld. Wir tun, was erforderlich ist.
Gib uns eine Chance.
Bitte.
Kates Handy klingelte. Sie schrak zusammen, klappte es auf und meldete sich.
»Kate Hanson.«
»Kate, ich bin’s …«
»Kevin?« Sie sprach sofort leiser. »Was willst du?«
Während ihre Kollegen in Akten blätterten und Julian von Bernie zum Teekochen verdonnert wurde, stand Kate auf und trat an eines der Panoramafenster. Sie rieb sich die Stirn, während sie der Stimme zuhörte.
»Ich muss mit dir reden, Kate.«
Als sie nichts sagte, fuhr Kevin fort: »Ich weiß, dass Maisie ab morgen Nachmittag zu mir kommen soll, aber mir ist was dazwischengekommen …«
Kate unterbrach ihn ruhig, aber energisch. »Kein Aber, Kevin. Wir haben eine Vereinbarung. Du, Maisie und ich haben vereinbart, dass sie jeden zweiten Freitag bei dir übernachtet und im Allgemeinen übers Wochenende bleibt. Den ersten Termin in diesem Monat hast du auch schon verschoben. Was ist bloß mit dir los?«
»Manchmal ändert die Situation sich eben, Kate. Hör auf, alles zu dramatisieren. Es geht doch nur um ein Wochenende.«
»Für Maisie ist das nicht gut, Kevin. Sie soll weiter eine Beziehung zu dir haben. Voraussetzung dafür sind regelmäßige Kontakte, ohne die …«
»Halte mir bitte keinen Vortrag, Kate. Wie oft stellst du deine wichtige Karriere über …«
Kate spürte, dass ihre Wangen heiß wurden. »Ich halte dir keinen Vortrag, und ich arbeite aus mehreren Gründen – unter anderem auch deshalb, um deine Tochter ernähren zu können.« An der Fensterbank lehnend, klopfte sie mit einem Fuß an ein Stuhlbein, während sie Kevin zuhörte.
»Ich komme auf der Heimfahrt vom Gericht bei dir vorbei. Vielleicht können wir dann ein zivilisiertes Gespräch führen.«
Kate atmete tief durch, bevor sie antwortete. »Gut, wir sehen uns also später. Dann können wir alles besprechen.« In Gedanken ging sie Maisies Verpflichtungen durch. Um 17:45 Uhr Kornettunterricht im Haus ihrer Musiklehrerin. »Komm nach sechs Uhr. Ich will nicht, dass Maisie hört, worüber wir diskutieren.« Sie beendete das Gespräch, ging an den Tisch zurück und wich Joes Blick aus, als das KUF -Telefon klingelte. Sie nahm den Hörer ab. Der Anrufer war Whittaker vom Empfang.
»Hi, Dr. Hanson. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass Ihre Tochter hier ist.«
»Danke«, sagte Kate scharf, noch immer ärgerlich wegen des vorigen Anrufs. Worüber regst du dich auf?, fragte sie sich. Kevin bleibt eben Kevin.
10
Kate stellte ihrem Besucher, der am Küchentisch saß, schweigend Kaffee und selbst gebackene Plätzchen hin, dann machte sie dort weiter, wo sie bei seinem Eintreffen aufgehört hatte. Sie hatte beschlossen, ihn reden zu lassen. Zumindest anfangs.
Der Fall James. Sie hatte schon jetzt viele Fragen. Sie hörte Kevin geräuschvoll Plätzchen kauen. Merkwürdig, wie solche Kleinigkeiten einen in vergangene Zeiten zurückversetzen konnten. Für Kate jetzt in eine Zeit, an die sie lieber nicht denken wollte. Obwohl sie natürlich nicht ganz schlecht gewesen war.
»Die sind gut«, sagte Kevin anerkennend.
»Maisie hat sie gebacken.« Weil sie seinen Blick auf sich spürte, sah sie von ihrem Notizbuch zu dem Mann auf, mit dem sie sieben Jahre lang verheiratet gewesen war.
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