Kalter Schmerz
Emmas Tagebuch markiert. Sie hatte an dem Tag nichts weiter aufgeschrieben, der einzige Eintrag war diese Nummer. Möglicherweise war das auch mir etwas komisch vorgekommen, allerdings nicht außergewöhnlich genug, um darüber zu stolpern.
Ich holte das schnurlose Telefon und setzte mich wieder hin, um die Nummer einzugeben. Draußen hörte ich Hagelkörner gegen die Fenster prasseln.
Eine Frau meldete sich: »Entbindungsstation, hallo?«
Ich zögerte. »Ähm … wie bitte?«
»Entbindungsstation, hallo?«
»Ich …« Ich hatte mir nicht zurechtgelegt, was ich sagen wollte, und selbst wenn, wäre ich darauf nicht vorbereitet gewesen. »Entschuldigung, mit welchem Krankenhaus spreche ich?«
»Ähm, mit dem Royal Free Hospital. Tut mir leid, mein Lieber, suchen Sie eine andere Station?«
»Und das ist die Entbindungsstation?«
»Ja. Kann ich Sie irgendwohin durchstellen?«
»Ähm … nein, nein, schon gut. Ich glaube, ich habe die völlig falsche Nummer, danke.«
»Kein Problem, mein Lieber.«
Ich legte auf und blieb sitzen. Draußen machte die Müllabfuhr Krach, ich blinzelte mich aus meinem Wachtraum. Im Kopf ging ich verschiedene Namen durch: Danny? Kyle? Matt? Wenn Emma schwanger gewesen war, dann von wem? Hatte sie wegen einer Abtreibung oder wegen eines Ultraschalls im Krankenhaus angerufen? Hatte sie das Kind behalten? Wer wusste es? Wer wusste es und hatte es mir nicht gesagt?
Weil ich annahm, dass Jenny Hillier noch traumatisiert von unserer letzten Begegnung war, kam mir kurz in den Sinn, Danny anzurufen. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob er etwas wusste.
Stattdessen stand ich auf, nahm das Foto von Emma und Daisy und beschloss, wieder zu dem Haus in Shooters Hill zu fahren.
Grandma, take me home . Jedes Mal, wenn ich an sie dachte, hatte ich das Lied im Kopf.
Daisy öffnete die Tür mit einem Baby auf der Hüfte. Sie trug Jeans und ein weißes bauchfreies Bustier. Sie wirkte erstaunt, mich zu sehen, und verlagerte das Kind auf die andere Seite.
Irgendwo im Haus lief laut Musik.
»Ah, hallo. Hast du’s nicht mehr ausgehalten?«
Ich starrte auf das Kind.
»Bleib locker«, sagte sie mit einer gewissen Verachtung. »Das ist mein Neffe, ich pass auf ihn auf.«
»Ich muss mit dir über Emma reden.«
»Wie geht’s dir, Daisy?«, sagte sie, als sie mich hereinließ, und beantwortete ihre Frage sofort selbst. »Gut, danke. Und dir? Tolles Wetter draußen, nicht? Kommt man so richtig beschissen in Weihnachtsstimmung.«
»Ähm, ’tschuldigung. Wie geht’s dir?«
»Leck mich. Prächtig.«
Ich stand an derselben Stelle wie beim letzten Mal, sie ging quer durchs Zimmer und stellte Radiohead auf Gesprächslautstärke, dann setzte sie sich hin, ihren Neffen auf den Knien.
»Bist du wirklich neunzehn?«, fragte ich.
Sie verdrehte die Augen auf eine Art, die mich unheimlich an Harriet erinnerte. »Über was wolltest du mit mir reden?«
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass Emma schwanger war?«
Ein Moment nach dem anderen verstrich. Daisy betrachtete den Kleinen, ließ ihn leicht auf ihrem Knie wippen.
»Er heißt Michael. Ist doch ein Supername, oder?«
»Verarsch mich nicht. Warum hast du mir das nicht gesagt?«
»Hey, pass verdammt noch mal auf, wie du hier redest, ja?« Sie sah mich mit erhobenen Augenbrauen an. »Also, ganz ehrlich? Ich hab’s dir nicht gesagt, weil es dich verdammt noch mal einen feuchten Dreck angeht. Es war ihre Sache. Außerdem ist es eh egal, weil sie es wegmachen ließ.«
Mir fiel auf, dass sie aufgeräumt hatte. Die leeren Essensbehälter waren verschwunden, es roch frischer. Ich fand es nett, dass sie sich wegen des Kindes Mühe gab.
»Wann hat sie es wegmachen lassen?«
»Zwei Wochen bevor sie starb. Ich glaube nicht, dass es viele Leute wussten. Ich, vielleicht ein paar von ihren Freundinnen, Kyle und wahrscheinlich Matt. Ihren Eltern hätte sie es niemals erzählt, sie meinte, ihr Vater würde buchstäblich jemanden umbringen.«
»Von wem war es?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Daisy …«
»Was!? Darf es mir vielleicht ein bisschen unangenehm sein, über die Angelegenheiten meiner Freundin mit einem Typen zu reden, den ich gar nicht kenne?«
»Du hast mich gut genug gekannt, um mit mir zu ficken.«
Wenn sie nicht Michael auf dem Arm gehabt hätte, wäre sie wohl aufgesprungen und auf mich losgegangen. Mir gefiel ein gesundes Maß an Aggressivität bei einem Mädchen, und Daisy kam rüber wie ein Mensch, der sich noch nie im Leben
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