Kalter Schmerz
ich es ihr am leichtesten beibringen konnte. Clevere Phrasendrescherei würde mir hier nicht weiterhelfen.
Sie trank das erste Glas Wasser leer, ließ sich noch eins einlaufen und zog ihr Haar aus dem Gummi. »Los. Im Ernst jetzt.«
»Emma war schwanger.«
Ich hatte das Gefühl, es nicht richtig gesagt zu haben, als wäre einer der anderen Sätze, die ich mir zurechtgelegt hatte, besser geeignet gewesen. Ich wiederholte ihn dennoch.
»Emma war schwanger.«
Sie stellte das Glas ab und wischte einen Tropfen vom Rand. »Aha.«
»Es tut mir leid.«
»Nein, schon gut … Ich wollte es ja wissen. Ähm, wie lange?«
»Was?«
»Wie … wie weit war sie?«
»Ah.« Ich schluckte. »Nein, sie war schwanger gewesen. Ein paar Wochen vor ihrem Tod hatte sie eine Abtreibung. Ich weißnicht, wie weit sie da war, aber ich nehme an, keine zwanzig Wochen.«
Clares Unterlippe zitterte, ihre Hand umklammerte noch immer das Glas. »Von wem hast du das erfahren? Ich meine, wie viele Menschen wussten es?«
Ich stellte meine Tasche ab, froh, dass ich immer noch sachlich darüber sprechen konnte. »Ich habe die Nummer der Entbindungsstation in ihrem Tagebuch gefunden. Ein paar Freunde wussten Bescheid.«
»Ein paar?«
»Ungefähr drei.«
»Ein paar, und uns hat sie nichts erzählt?«
Ich streckte die Hände aus. »Sie hatte einfach Angst. Sie war nur …«
»Erzähl mir nicht, was sie war!«, brüllte sie mich an.
Mit immer noch zitternden Händen griff sie sich an den Nasenrücken. Wenn es mich nicht so berührt hätte, wenn ich nicht am liebsten zu ihr gegangen und sie in den Arm genommen hätte, wäre es für mich ein pervers faszinierendes Experiment gewesen. Ich beobachtete, wie viele Schicksalsschläge ein Mensch verkraften konnte, bevor er völlig den Verstand verlor.
»Von wem war es? War es … von Danny?«
»Nein, nicht von Danny. Ich weiß es nicht.«
»Du lügst.«
»Ehrlich, ich weiß …«
»Hör auf, mich zu schonen! Du hast mich nicht davor zu schützen!«
»Clare …«
»Von wem war es?«
»Beruhige dich doch …«
»Oh, bitte!« Sie lachte hysterisch. »Hör auf, so zu reden, alswürdest du mich kennen! Glaubst du, du bist was Besonderes, nur weil du eine halbe Nacht hier geschlafen hast?«
»Ich habe gesagt, beruhige dich.«
»Von wem war es?«
»Ich weiß …«
»Glaubst du, du hast das Recht zu entscheiden, was gut für mich ist? Glaubst du, du kennst mich so gut?«
»Nein, ich …«
»Willst du mehr über mich wissen? Schön. Schön! « Sie zog ihr weißes Shirt aus, warf es auf den Boden und schälte sich aus der Jogginghose. »Guck richtig hin! Das bin ich, direkt vor dir!«
Sie drehte sich um, so dass ich die Schnittwunden sehen konnte, die grobe Schienenstränge auf ihren Bizeps zeichneten, die Narben auf ihren Hüften und ihren Rippen. Sie hob die Arme, zeigte ihre Handgelenke, nahm ihre Haare zu einem Knoten auf dem Hinterkopf zusammen, um die blauen Flecken an ihrem Haaransatz freizulegen.
»Die hier, die bin ich! Und die hier, die bin ich auch!«
Ich stand sprachlos da, während sie mit bebender Stimme ihre Tirade abließ.
»Fick dich! Fick dich und alles, was du zu wissen glaubst! Das ist Müll! Du hast keine Ahnung!«
Ich machte einen Schritt zurück, gebannt, eine wilde Erektion drückte gegen meine Jeans, nicht mal ansatzweise konnte ich daran denken, Clare möglicherweise aufzuhalten.
»Schau hin. Schau hin !« Mit ihrem Blick fesselte sie mich, nahm ein Messer aus dem Block und schnitt sich mit der Klinge beiläufig in den Unterarm, so wie man sich ein Pflaster von einer Wunde reißen würde. »Das hier gefällt mir! Das ist es, was du verdammt noch mal nicht begreifst! Das alles bin ich.«
Blut tropfte von ihrem Arm auf den Boden.
Ich öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch es kam nichts heraus. Mein Magen zog sich vor Entsetzen zusammen.
»Clare …«
»Und, Nic, wie gefalle ich dir jetzt?« Sie lachte und tat es erneut.
»Clare, hör auf!«
»Nein!«
Als ich mich ihr näherte, richtete sie das Messer mit einem verspielten Glitzern in den Augen auf mich. Die Schnittwunden an ihrem Arm sahen tief aus und bluteten ziemlich stark, doch sie ließ keine Schmerzen erkennen. Wie bei dem Spiegel im Ballettsaal. Sie hatte gelernt, sich zu verletzen, ohne dass ihre äußere Schönheit davon beeinträchtigt wurde.
»Clare …«, sagte ich und versuchte, ruhig zu blieben, wusste aber, dass schon zu viel geschehen war. »Clare, denk doch mal nach! Hör auf
Weitere Kostenlose Bücher