Kalter Süden
sagte Lotta.
»Das ist doch gequirlte Kacke«, sagte Annika. »Willst du damit sagen, dass du nichts empfindest, wenn du eine Zeitung liest oder Nachrichten im Fernsehen siehst? Wenn Kinder vergast werden? Oder Mädchen spurlos verschwinden? Oder Diktatoren gestürzt werden und ihr Volk die Demokratie bekommt?«
»So habe ich das doch nicht gemeint«, sagte Lotta gekränkt.
»Wie denn dann? Dass Fotos von einer Blechschere einen mehr berühren als ein Artikel über kleine Kinder, die mit Fentanylgas umgebracht werden und tot vor dem Schlafzimmer ihrer Mutter auf dem Fußboden liegen?«
Die Stille im Wagen war ohrenbetäubend. Das Einzige, was sie hörte, war ihr eigener keuchender Atem.
Herrgott noch mal, dachte sie, ich tu es schon wieder. Ich streite mich über die idiotischsten Sachen der Welt, anstatt über die eigentlichen Probleme zu reden. Ich habe nicht mehr alle Tassen im Schrank.
»Entschuldige«, sagte sie. »Ich habe so entsetzliche Kopfschmerzen.«
»Hier in Spanien gibt es jede Menge lustiger Pillen«, sagte Niklas Linde. »Möchtest du, dass ich an einer farmacia halte?«
»Ich habe Panodil im Zimmer«, murmelte sie.
Lotta blinzelte und kämpfte mit den Tränen, und Niklas wirkte gereizt.
Sie passierten die Stierkampfarena, und Annika konnte schon die Autobahn ahnen. Gott sei Dank waren sie bald am Ziel.
Sie schwiegen, bis er vor dem Hotel vorfuhr.
»Melde dich doch mal, bevor du fliegst«, sagte er und lächelte sie aus dem herabgelassenen Seitenfenster an.
Sie knallte die Autotür zu und zwang sich zurückzulächeln.
Lotta ging schnurstracks auf ihr Zimmer, ohne Annika eines Blickes zu würdigen.
Wie du willst, dachte Annika. Sie ging wieder nach draußen, zu dem großen Kaufhaus, bog dann nach rechts Richtung Hafen ab und setzte sich in den McDonald’s. Sie hatte genug davon, in diesem blöden Hotel zu hocken und sich durch die Abende zu hungern. Sie bestellte einen doppelten Cheeseburger mit Karottensalat und Mineralwasser und setzte sich an einen Fenstertisch.
Es war verhältnismäßig ruhig um sie herum. Ein paar spanische Jugendliche lachten drüben im Kassenbereich. Zwei gutgekleidete Spanierinnen unterhielten sich vertraulich über ihren Muffins. Am Nachbartisch saß ein Mann im Anzug mit weißem Hemd und Schlips, neben sich einen etwa zehnjährigen Jungen im Rollstuhl. Der Junge war Spastiker, seine Arme, Hände, Füße und Beine waren verdreht und zuckten in unkontrollierten Krämpfen. Annika bemühte sich, ihn nicht anzustarren, was gar nicht so einfach war, denn das Kind saß genau vor ihr. Sie stocherte in ihren Karotten und trank ihr Wasser.
Der Vater sprach in leisem, sanftem Spanisch mit seinem Sohn, fütterte ihn mit Pommes frites und hielt ihm eine Limonade mit Strohhalm hin, damit der Junge trinken konnte. Der Junge versuchte etwas zu sagen, und der Vater verstand ihn offensichtlich, denn er lachte zustimmend.
»Sí, sí, claro« , sagte er und gab seinem Sohn noch mehr Pommes frites.
Die Eingangstür ging auf, und eine elegante Frau und ein etwa fünfjähriges Mädchen betraten das Hamburgerrestaurant. Die Frau ließ den Blick suchend durch den Raum schweifen, und ihr Gesicht leuchtete auf, als sie den Mann und den Jungen im Rollstuhl entdeckte. Sie schlängelte sich zwischen den Tischen hindurch, hielt das kleine Mädchen an der einen Hand und ihre Einkaufstüten von D&G und Versace in der anderen. Sie trat an den Tisch, küsste den Mann auf den Mund und den Jungen im Rollstuhl auf die Wange, dann sagte sie etwas, und alle vier lachten. Auch der Junge im Rollstuhl.
Ohne nachzudenken, stand Annika auf und ging zum Ausgang. Sie stieß gegen Tische und Stühle und merkte, wie sie sich blaue Flecken an den Beinen holte, aber es tat nicht weh, denn all ihre Schmerzen saßen in ihrer Brust.
Es gab so viel Liebe auf der Welt, wenn man nur fähig war, sie anzunehmen. Und was machte sie? Führte alberne Kriege gegen alles und jeden, besessen von dem Gedanken zu siegen, recht zu haben, zu brillieren und Anerkennung zu finden.
Ein paar englische Teenager kamen ihr auf dem Bürgersteig entgegen, mit lauten Stimmen und Zara-Tüten in der Hand und sonnenverbrannten Nasen. Annika wischte sich mit den Handrücken die Tränen ab und ging rasch und mit gesenktem Kopf zum El Corte Inglés. Blieb vor dem Kaufhaus stehen und sah hinüber zum Hotel. Sie wollte nicht einsam auf ihrem Zimmer sitzen und darauf warten, dass jemand anrief.
Ich habe andere Verpflichtungen.
Sie
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