Kalter Süden
sagte Annika. »Ich finde Sie gar nicht so langweilig.«
»Ich hatte dabei auch eher an Sie gedacht«, entgegnete der Makler ernst und schaltete seinen Rechner aus.
Sie gingen zusammen aus der Tür.
Rickard Marmén zog das obligatorische Metallgitter herunter und sicherte es mit einem Hängeschloss an einem Haken im Boden.
»Sagen Sie Bescheid, wenn Sie Hilfe brauchen«, sagte er, winkte und verschwand Richtung Hafen.
Die Hotellobby war völlig ausgestorben. Nicht einmal die Dame von der Rezeption war zu sehen.
Annika durchquerte eilig das Foyer und begab sich auf ihr Zimmer, ohne jemandem über den Weg zu laufen. Vor allen Dingen Lotta nicht. Sie ließ sich erleichtert auf die Bettkante sinken und starrte auf den Marmorfußboden.
Ich sehe die Sache folgendermaßen, dachte sie. Wenn ich die Konfrontation vermeide, wenn ich nicht reden und mich erklären muss, dann habe ich schon gewonnen. Wenn ich über den Job sprechen und das Wissen der Leute für meine Arbeit nutzen kann, dann geht es mir gut. Wenn jemand auf meine Fragen antwortet und tut, was ich sage, dann verschwindet meine ganze Angst.
Sie streckte den Rücken.
Das ist doch nicht normal, sagte sie sich. Dafür gibt es vielleicht sogar irgendeine Diagnose. Was, wenn ich wirklich krank im Kopf bin?
Vielleicht sollte sie auf jeden Fall mal zu einem Seelenklempner gehen, so einem, zu dem Anne Snapphane sie immer hatte scheuchen wollen.
Oder sie könnte ihr Verhalten ändern. Sich anstrengen, ein bisschen entgegenkommender zu sein, auch wenn die Leute nicht genau das taten, was sie wollte. Das konnte doch nicht so schwer sein, oder?
Sie stand auf und drehte eine rastlose Runde durchs Zimmer. Leute, denen es viel schlechter ging als ihr, schafften es doch auch, sich anzupassen. Sie hatten die Kraft, die Liebe zu würdigen, das geschah andauernd überall. Es passierte in feuchten Gefängniszellen, in denen Männer eingesperrt saßen, weil sie Angst um ihre Angehörigen hatten. Es geschah in halbleeren Hamburgerrestaurants, in denen es Menschen mit einem behinderten Kind schafften, zusammenzuhalten und sowohl einander als auch das Leben zu lieben.
Sie setzte sich wieder aufs Bett und hob ihre Tasche auf den Schoß. Riss das Mobiltelefon heraus und hielt es unentschlossen in der Hand. Sie musste Lotta Bescheid geben, dass sie morgen früh nach Gibraltar fahren würden. Die Frage war, ob sie anrufen oder lieber eine SMS schicken sollte. Sie zögerte eine halbe Sekunde, dann entschied sie sich für die SMS . Anschließend rief sie die Liste mit den entgangenen Anrufen auf.
Thomas’ Nummer stand ganz oben, unter der Zentralnummer der Regierungskanzlei.
Sie sah auf die Uhr, Viertel nach acht. Dann schluckte sie und drückte auf »anrufen«.
Die Rufsignale hallten, zwei, drei, vier …
»Ja, Thomas hier …«
Sie musste sich räuspern.
»Äh, hallo«, sagte sie. »Ich bin’s.«
»Hallo. Hallo!«, sagte er. »Wie geht’s?«
Ein doppeltes Hallo, er war also erstaunt, von ihr zu hören.
»Ich habe gesehen, dass du angerufen hattest«, sagte sie. »Heute Morgen. Oder heute Vormittag.«
»Ja! Genau. Wartest du mal kurz?«
Er verschwand für ein paar Sekunden vom Telefon, sie hörte ihn im Hintergrund Englisch sprechen.
»So«, sagte er. »Jetzt bin ich draußen.«
»Wo bist du?«
»Im Hotel, im Parador. Ein Golfhotel direkt am Meer, und direkt in der Einflugschneise des Flughafens. Falls es sich bei mir anhört wie der Dritte Weltkrieg, dann ist das nur ein easyJet aus London mit einer Horde englischer Pauschaltouristen auf dem Weg nach Torremolinos …«
Der Rest seiner Worte ging im entsetzlichen Gebrüll eines Flugzeugs unter, das zur Landung ansetzte.
»Das war er«, sagte er dann, und sie musste lachen. Er hatte vermutlich etwas getrunken, normalerweise war er nicht so locker.
»Wolltest du was Besonderes, als du angerufen hast?«, fragte sie feige und schob ihm die Verantwortung für den Anruf zu.
»Ja«, sagte er, »die Versicherung hat mich heute Morgen angerufen. Erinnerst du dich an den Schadenssachbearbeiter Zachrisson?«
Sie schloss die Augen und sah einen Mann mit breitem, unaufrichtigem Lächeln vor sich, in einem Büro mit gläsernen Wänden und Chrommöbeln, das hoch über Erdboden und Wasser schwebte.
»Wie könnte ich den vergessen?«, sagte sie.
»Er hat mich angerufen und gesagt, dass sie uns die Versicherungssumme ausbezahlen. Hast du eine Ahnung, was da passiert ist?«
Sie lachte vor Erleichterung auf, dann stimmte
Weitere Kostenlose Bücher