Kalter Süden
zerschneiden ließ …
»Annika?«
Sie sah auf und schaute ins Gesicht eines blonden Mädchens, das an ihren Tisch getreten war. Es trug einen Rucksack und einen Kapuzenpulli.
»Polly?«
Das Mädchen reichte ihr die Hand und setzte sich auf den Stuhl gegenüber, während sie sich aus den Tragschlaufen ihres Rucksacks quälte.
»Ich weiß«, sagte sie und beugte sich über den Tisch, damit Annika sie verstehen konnte, »ich sehe nicht mehr so aus wie auf dem Foto auf Facebook. Eigentlich hatte ich vor, es auszutauschen, aber ich hab’s mir anders überlegt. Suzette und ich haben unsere Fotos zusammen gemacht, und wenn ich jetzt noch das Bild ändere, verschwindet sie noch mehr …«
Annika sah das Mädchen an. Wie erwachsen sie wirkte.
»Und jetzt glaubst du, sie hat sich gemeldet«, sagte Annika.
Polly nickte.
»Wollen Sie etwas trinken? Ich kann uns was holen.«
Annika zog ihr Portemonnaie heraus und hielt Polly einen Hunderter hin.
»Für mich nur ein Glas Wasser«, sagte sie.
Das Mädchen ging zur Kasse, die auf einem verrosteten Eisentisch stand. Annika folgte ihr mit dem Blick. Sie musste sechzehn sein, vielleicht siebzehn, wirkte aber älter.
Polly kam mit einem Glas Wasser mit Zitrone und einer Tasse grünem Tee zurück. Sie setzte eine entschuldigende Miene auf.
»Ich weiß, dass es albern war, was ich letztes Mal geschrieben habe«, gab sie zu.
Annika blinzelte.
»Als ich fragte, ob Sie glauben, dass es im Himmel E-Mail gibt. Ist ja logisch, dass es das nicht gibt, das weiß ich ja. Ich hatte nur einfach gehofft …«
Sie kletterte auf ihren Hocker. Besonders groß war sie nicht, ungefähr Annikas Größe.
»Aber diesmal weiß ich, dass es echt ist. Suz lebt«, sagte sie.
Annika versuchte, sich das Mädchen genauer anzusehen, ohne zu starren. Ihr Gesicht war ruhig und konzentriert. Sie erschien weder überspannt noch exaltiert.
»Hast du deinen Rechner dabei?«, fragte Annika.
Polly nickte und zog einen Laptop aus ihrem Rucksack.
»Ich bin ein bisschen in Eile«, sagte sie. »Wir haben heute noch Schüler-Versammlung.«
Sie klappte den Laptop auf, loggte sich ein, klickte kurz herum und schob Annika schließlich den Rechner hin. Das Bild eines schwarzhaarigen Mädchens, das ein braunes Pferd umarmte, füllte den gesamten Bildschirm.
»Die haben hier gratis Wireless«, sagte Polly. »Ich logge mich mal ein.«
»Das ist ja ein schönes Foto von Suzette«, sagte Annika.
»Das Pferd heißt Sultan, Suzettes Lieblingspferd. Die Reitschule hat ihn inzwischen verkauft.«
Der Bildschirm wurde kurz dunkel, dann öffnete sich die Seite von Hotmail in Windows Live. Oben lief ein Banner, das für eine wissenschaftliche Zeitschrift warb, unmittelbar darunter, ganz rechts, sah sie die Login-Adresse herr-gunnar-larsson . Die dunkelblaue Markierung auf der linken Seite zeigte »gesendet« an. Im Ausgangsfach waren zwei Mitteilungen gespeichert, die Betreffzeile war jeweils leer. Sie waren an Pollys Yahoo-Adresse geschickt worden. Die erste Ende März, die zweite gestern, am 13 . Juni, um 14 . 37 Uhr.
»Das ist also Gunnar Larssons Mail-Adresse?«, fragte Annika. »Also die, die Suzette und du eingerichtet habt, um die Nachrichten an eure Mitschülerinnen zu schicken?«
Polly nickte.
»Wir haben alle Mails gelöscht, als Gunnar gehen musste«, sagte Polly ein wenig beschämt.
»Aber die Adresse habt ihr behalten?«
»Wir wussten nicht, wie man sie löscht.«
Annika klickte auf die Mail vom März. Leer.
Dann öffnete sie die zweite.
Hi Polly, du darfst niemandem was von der Mail sagen. Mama nicht und auf KEINEN FALL der Polizei. Auf der Farm gibts kein Netz, deshalb konnte ich nicht mailen. Jetzt bin ich in einem Internetcafe. Sie wissen nicht, wo ich bin, und Fatima waere stinksauer, wenn sie wuesste, dass ich dir schreibe. Ich bin bei Amira. Seit Silvester bin ich hier. Ich habe ein eigenes Pferd bekommen. Es heisst Larache. Er ist super, ein Mix aus englischem und arabischem Vollblut. Wallach. Ist Adde mit einer anderen zusammen? Sag ihm nicht, dass ich dir geschrieben habe. Du kannst auf die Mail antworten, aber ich weiss nicht, wann ich wieder rankann. Wir fahren nur ganz selten mal nach Asilah.
Grussundkuss von suz
Annika las die Nachricht zweimal. Offenbar war die Mail auf einer Tastatur geschrieben worden, die keine Umlaute hatte. Asilah, das hörte sich an wie ein Ort, es klang irgendwie vertraut. Wo hatte sie schon mal davon gehört?
»Glaubst du, die Mail ist echt?«,
Weitere Kostenlose Bücher