Kalter Süden
lassen. Es gab ja doch keine Parkplätze in der Drottninggatan.
Polly war noch nicht da. Annika schwang sich auf einen sehr hohen Barhocker, der an einem Tisch aus Walzblech mit Neonbeinen stand. Sie versuchte, bei einer Kellnerin mit Silberspieß in der Nase einen Caffè Latte zu bestellen, erhielt allerdings die schnippische Antwort, dass dies ein Café mit Selbstbedienung sei. So angesagt, dass man am Tisch bediente, war man hier also doch nicht. Dann verzichtete sie eben auf den Kaffee und sah sich lieber ein bisschen um.
Das Lokal erinnerte an eine Fabrikhalle aus einem futuristischen Horrorfilm. Zur Dekoration hingen an den Wänden rostige Eisenstücke, eingefasst von bunten Neonschlangen. Die Kaffeemaschine zischte, in der Küche rauschte eine Spülmaschine, das Geschirr klirrte. Gegen das, was aus den Lautsprechern klang, konnte einem die Musik der Hardrockgruppe Rammstein wie fröhliche Schlagermusik vorkommen.
Ihr Finger schmerzte.
Es war wohl kaum ein Zufall, dass er ihr mit dem gleichen Finger gewinkt hatte, der ihr am Abend nach ihrer Begegnung zerschnitten worden war, weil sie sich nicht an seine Anweisungen halten wollte.
Sie steckte die Hand wieder in die Jackentasche.
Das Café füllte sich, es war bald Mittagszeit. Überraschend viele Gäste schienen Beamte des Ministeriums oder der Ämter in der Innenstadt zu sein, jedenfalls ließ ihr konservatives Äußeres darauf schließen: weiße Hemden und dunkle Hosen, genau wie Filip Andersson auf der Pressekonferenz.
Sie schauderte.
Wenn Filip Andersson den Überfall auf sie zu verantworten hatte, war er schnell gewesen. Zwischen ihrem Besuch in Kumla und dem Übergriff hatten nur wenige Stunden gelegen. Es musste ihm sehr wichtig gewesen sein, dass sie nicht weiter in David Lindholms Vergangenheit wühlte. Warum?
Doch wohl kaum wegen nostalgischer Kindheitserinnerungen. Sie hatten gemeinsam Geschäfte gemacht. David hatte eine Affäre mit Filips Schwester gehabt und sie geschwängert. Er war Filip Anderssons Vertrauensmann in Kumla gewesen, eine Art Bewährungshelfer und Kontaktperson, wie es jeder zu lebenslänglicher Haft Verurteilte hat.
Abgesehen von dem, was sie bereits wusste, musste es eindeutig noch etwas anderes geben, das sie nicht herausfinden sollte. David hatte eine Menge dunkler Seiten. Annika erinnerte sich daran, wie Nina Hoffman ihr beschrieb, was er Julia angetan hatte.
David Lindholm hatte seine Frau in der Wohnung gefangen gehalten, manchmal eine ganze Woche. Ein anderes Mal hatte er sie nackt ins Treppenhaus verbannt, bis sie wegen Unterkühlung ins Krankenhaus gebracht werden musste. Er war ein notorischer Fremdgänger, verschwand manchmal wochenlang, ohne zu sagen, wo er gewesen war, beschimpfte sie als Hure und Schlampe …
Annika schaute auf die Uhr.
Wenn Polly nun nicht auftauchte?
Sie trommelte mit der rechten Hand auf den Blechtisch.
David war ein Mensch voller Widersprüche gewesen. Ein Schwein von einem Ehemann, und trotzdem hatte man ihn als Schwedens berühmtesten und angesehensten Polizisten gefeiert.
Dass er gewalttätig war, wusste sie aus den Ermittlungen, die am Anfang seiner Polizeilaufbahn wegen Körperverletzung gegen ihn geführt worden waren. Sie erinnerte sich noch lebhaft an Timmo Koivisto, einen ehemaligen Junkie. Nach seinen Angaben hatte David ihm den Kopf so oft gegen eine Toilettenwand geschlagen, dass Timmo bleibende Schäden davontrug.
Timmo Koivisto war ein kleiner Dealer am untersten Ende der Nahrungskette gewesen. Er finanzierte seinen eigenen Bedarf, indem er den Stoff ab und zu mit Traubenzucker streckte und den Gewinn für sich behielt.
»Warum hat er das getan? Warum hat David Sie derartig misshandelt?«, hatte Annika Timmo gefragt.
»Sie wollten mir zeigen, dass ich ihnen nicht entkomme«, hatte Timmo Koivisto geantwortet. »Sie würden mich überall finden. Und wenn sogar die Polizei in ihren Diensten stand, gab es sowieso keinen Ort, an dem ich mich hätte verkriechen können.«
»Und wer sind ›sie‹?«, hatte Annika gefragt. »Die Drogenmafia?«
»So könnte man sie vielleicht nennen«, hatte Timmo Koivisto geantwortet.
Sie blickte sich in dem futuristischen Alptraumlokal um. Sie war doch im richtigen Café?
Sicherheitshalber schaute sie noch einmal in ihrem Block nach. Doch, hier musste es sein.
Sie ließ den Block auf dem Tisch liegen und starrte auf die Betonwand. David Lindholm, Drogenmafia, die Morde in der Sankt Paulsgatan, Filip Andersson, der ihr den Finger
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