Kalter Süden
Architektur studieren. Wenn ich ein bisschen spare, reicht die Versicherungssumme, bis ich fertig bin.«
Sie maß fünfzig Milliliter Wasser ab, goss es in einen Topf und stellte ihn auf den Herd.
»Darf ich dich noch etwas anderes fragen?«, sagte Annika. »Weißt du, ob David irgendwelche Verbindungen nach Marokko hatte?«
»Marokko? Nein. Warum sollte er?«
»Hat er nie über Marokko gesprochen? Von Bekannten dort?«
»Warum fragst du?«
Annika zögerte.
»Er hatte dort vielleicht einen Verwandten …«
Julia holte die Butter aus dem Kühlschrank und einen Schneebesen aus der Besteckschublade, goss ein wenig Milch in einen Kaffeebecher, gab ein großes Stück Butter dazu und stellte den Becher in die Mikrowelle. Sie stellte den Ofen auf zwei Minuten und drückte auf den Startknopf.
»Er hat nur ein einziges Mal von Marokko gesprochen, und zwar, als er von seinem Stiefvater Torsten erzählte. Der ist in Marokko verschwunden, als David auf die zwanzig zuging.«
Annika durchforstete ihr Gedächtnis. Julia hatte den verschwundenen Stiefvater schon einmal erwähnt.
»Hat David jemals herausgefunden, was aus ihm geworden ist?«
Julia holte drei Teller, Gläser und Besteck aus dem Schrank.
»Ich glaube, dass David nie ganz damit fertiggeworden ist. Sie haben sich sehr nahegestanden. Seinen leiblichen Vater hat er ja nicht gekannt, deshalb war Torsten so unglaublich wichtig für ihn.«
Sie hielt inne.
»Das war in dem Winter, bevor David sich an der Polizeihochschule beworben hat.«
Annika nahm die Teller entgegen und deckte den Tisch.
»Als ihr in Estepona gewohnt habt, könnte David da nach Marokko gefahren sein, um Torsten zu suchen?«
Julia sah sie verwundert an.
»Nein«, sagte sie. »Das war doch alles schon eine Ewigkeit her. Das glaube ich nicht.«
Die Mikrowelle piepste dreimal, die Milch war heiß und die Butter geschmolzen. Auf dem Herd kochte das Wasser. Julia leerte das Kartoffelpüreepulver in das Milch-Butter-Gemisch und rührte energisch mit dem Schneebesen um.
»Alexander! Essen!«
Kurz darauf kam der Junge aus seinem Zimmer. Er stellte sich neben Annika.
»Du sitzt auf meinem Platz«, sagte er.
Seine Stimme war überraschend tief, ganz anders, als Annika sie aus der Nacht im Wald in Erinnerung hatte.
»Setz dich hierhin, Alexander«, bat Julia und zeigte auf den Platz am Kopfende des Tisches.
Das Gesicht des Jungen verzog sich zu einer Grimasse, und aus seinem Hals stieg ein abgrundtiefes Gebrüll. Er brach auf dem Boden zusammen, warf den Oberkörper vor und zurück, trommelte mit Händen und Füßen auf den Boden und schrie. Erschrocken rückte Annika zur Seite. Julia schien weder erstaunt noch bestürzt, sondern erhob sich ruhig und zog den Kleinen auf ihren Schoß. Dann wiegte sie ihn, bis der Wutausbruch verebbte.
»Heute darfst du mal hier auf diesen Platz«, sagte sie und setzte den Jungen auf den Stuhl am Kopfende.
Alexanderbedachte Annika mit einem feindseligen Blick, dann langte er nach Messer und Gabel und stürzte sich mit Heißhunger auf die Hackfleischbällchen.
»Krieg ich Ketchup?«, fragte er zwischen zwei Bissen.
»Heute nicht«, sagte Julia.
Stumm aß Annika das Pulverpüree und die aufgewärmten Hackfleischbällchen. Natürlich waren ihre Kinder auch ab und zu mal jähzornig, aber einen Ausbruch dieser Sorte hatte sie noch nie erlebt.
»Darf ich jetzt gehen?«, fragte Alexander, als er fertig war.
»Hast du nicht etwas vergessen?«, mahnte Julia.
»Danke fürs Essen«, sagte er, kletterte vom Stuhl, sammelte ungelenk sein Glas, Besteck und den Teller zusammen und balancierte das Ganze zur Spüle.
Dann verließ er die Küche, ohne sich umzublicken, ging in sein Zimmer und schloss die Tür.
»Sieben Jahre bei der Schutzpolizei sind manchmal wirklich hilfreich«, sagte Julia und schenkte Annika ein bekümmertes Lächeln. »Kaffee?«
Annika schaute auf die Uhr.
»Ich muss eigentlich los«, sagte sie. »Hast du übrigens noch Kontakt mit deiner Schwiegermutter?«
Julia befüllte die Kaffeemaschine mit Wasser und nahm eine Kaffeedose vom Regal.
»Nicht mehr als früher«, antwortete sie. »Wir haben sie letztes Wochenende hergeholt, aber sie ist die ganze Zeit nur herumgelaufen und hat nach David gesucht. Das war total unangenehm. Es wird sicher eine Weile dauern, bis wir das wiederholen.«
»In welchem Pflegeheim ist sie eigentlich?«
»Ramsmora.«
»Wo liegt das?«
»In Nacka. Das ist zwar nicht weit, aber wir haben kein Auto, und mit den
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