Kalter Süden
nach.
»Ungefähr Viertel vor zwölf.«
»Hat er einen Pass?«
»Einen Pass?«
Sie überlegte.
Besaßen Gefangene mit lebenslänglicher Haftstrafe einen Pass?
Sie hatte mal einen Artikel über einen Häftling geschrieben, der nicht zur Beerdigung seiner Mutter nach Schottland fahren durfte. Der Mann war vollkommen verzweifelt gewesen, aber die Vorschriften waren knallhart. Er hatte seinen Pass abgeben müssen, als er in den Knast ging, und diese Vorschrift galt für alle, die zu einem Jahr Gefängnis oder mehr verurteilt wurden. Sie erinnerte sich sogar noch an das Gesetz, in dem das geregelt war: Paragraph 12 des Passgesetzes.
Es war völlig ausgeschlossen, dass ein Häftling mit lebenslänglicher Haftstrafe seinen Pass behalten durfte.
Und sich einen neuen Pass zu besorgen dauerte fünf Werktage, das wusste sie genau, denn sie hatte vor ein paar Jahren selbst versucht, den Vorgang zu beschleunigen, und war grandios gescheitert.
Möglicherweise konnte er sich auf dem Flughafen Arlanda einen vorläufigen Reisepass ausstellen lassen, das hatte Anne Snapphane einmal gemacht, als sie eine Pauschalreise in die Türkei antreten wollte.
Sie schüttelte den Kopf.
»Keinen regulären Pass«, sagte sie, »aber vielleicht einen vorläufigen.«
»Gehört Schweden zu den Schengen-Staaten?«
Annika nickte.
»Dann kann er innerhalb Europas mit seinem Personalausweis reisen?«
Sie nickte wieder.
Fatima erhob sich, öffnete die Tür und sagte leise etwas auf Arabisch. Dann machte sie die Tür wieder zu.
»Kennen Sie ihn?«, fragte sie. »Wissen Sie, was für eine Sorte Mann er ist?«
Annika versteckte ihren Finger hinter dem Rücken.
»Ich habe ihn einmal interviewt, aber ich kenne ihn nicht.«
Fatima ging zurück zum Schreibtisch und setzte sich wieder.
»Jetzt habe ich mehrere Fragen beantwortet«, sagte Annika. »Darf ich Ihnen nun auch eine stellen?«
Fatima regte sich nicht. Annika nahm es als Zustimmung.
»Ist Suzette hier?«
Die Frau rührte sich immer noch nicht. Sie blinzelte nicht einmal. Fragte nur kühl: »Wie kommen Sie auf die Idee, dass sie hier sein könnte?«
Die Frage selbst schien die Frau nicht zu irritieren, und sie fragte auch nicht, wer Suzette war. Also musste sie es wissen.
Annika überlegte fieberhaft, was sie antworten sollte. Sie durfte nicht verraten, dass Suzette eine Mail geschickt hatte, das würde auf das Mädchen zurückfallen.
»Suzette hat eine sehr gute Freundin, die Amira heißt. Das hat sie ihren Freundinnen erzählt, das ist also kein Geheimnis. Und Amira wohnt auf einer Farm mit Pferden außerhalb von Asilah. Wenn Sie wissen, wer ich bin, dann wissen Sie auch, dass ich Artikel schreibe. Ich habe über Suzette geschrieben, und ihr Schicksal hat mich berührt. Ich möchte sie finden.«
Es klopfte an der Tür, und Fatima öffnete. Annika hörte murmelnde arabische Stimmen. Fatima verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Annika wartete fünf Minuten, dann kam die Frau zurück.
»Wir können morgen weiterreden. Ab jetzt sind Sie unser Gast. Ahmed wird Ihnen Ihr Zimmer zeigen.«
Damit verschwand sie, und der junge Mann von vorhin erschien in der Tür. Er gab Annika ihre Tasche zurück. Bis auf Zahnbürste, Block, Stifte und Unterwäsche zum Wechseln war sie leer. Laptop, Handy und Kamera hatten sie behalten.
»Suivez-moi« , forderte er sie auf. Annika nahm ihre fast leere Tasche und folgte ihm.
Sie gingen durch die dunkle Eingangshalle zu einer Treppe auf der linken Seite. Sie war aus Stein, wand sich steil nach oben und endete vor einer massiven Holztür. Der junge Mann machte sie auf, und sie betraten einen kleineren, spärlich beleuchteten Flur.
»Allez« , sagte er und ging hinter ihr her fast bis ans Ende des Flurs. Dann blieb er vor einer schmalen Tür stehen.
»Ici.«
Annika betrat den Raum und merkte, wie die Tür hinter ihr zufiel.
Sie wandte sich noch um und wollte fragen, wie lange sie hierbleiben sollte, als sie hörte, wie ein Schlüssel im Schloss herumgedreht wurde.
Der Tod am Strand
Schielauge war nicht ganz richtig im Kopf. Es hieß, sein Vater habe ihm einmal, als er noch klein war, so hart ins Gesicht geschlagen, dass das Auge verrutschte und er auf einem Ohr schwerhörig wurde, aber das war möglicherweise nur ein Gerücht. Er war eines der ersten Pflegekinder, die nach Gudagården kamen, und er machte nie viel Aufhebens von sich.
Er hatte nur eine Schwäche: Er konnte die Finger nicht von den Mädchen lassen, vor allem nicht
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