Kalter Süden
mit dem Gewehrlauf ihre Sachen, und Annika fragte sich, ob das Objektiv der Kamera so eine ruppige Behandlung wohl unbeschadet überstand.
»Venez par ici« , sagte der ältere Mann und winkte mit seiner Waffe. Sie begriff, dass sie ihm folgen sollte. Der Junge warf ihre Sachen rasch wieder in die Tasche und hängte sie sich über die Schulter. Die würde sie offenbar nicht wiederbekommen.
Sie ging ein paar vorsichtige Schritte vorwärts, konnte undeutlich die Konturen von Häusern und Autos erkennen.
Wie vermutet überquerten sie einen großen, ummauerten Innenhof. Links und direkt vor ihr waren Gebäude. Sie blickte zu dem Haus hinauf und staunte.
Es war ein riesiges Wohnhaus. Dreißig Meter lang, drei Stockwerke hoch, mit Balustraden und Erkern und umlaufenden Balkonen im ersten und zweiten Stock. Hinter mehreren Fenstern in den oberen Stockwerken brannte Licht, es war gedämpft, so als ob es durch dicke Vorhänge fiel. Eine kleine Außenlampe beleuchtete den Eingang im Erdgeschoss.
Der ältere Mann ging voraus, der Junge folgte ihr auf den Fersen. Wie es aussah, steuerten sie auf den Eingang zu.
Der Mann klopfte leicht an die Tür, die sich daraufhin öffnete wie ein schwarzes Loch.
»Entrez« , forderte der Mann sie auf und schwenkte wieder seine Waffe.
Sie konnte ihren Herzschlag in den Ohren hören und schluckte krampfhaft.
Dann trat sie durch die Tür. Die Dunkelheit war kompakt, aber die Luft war angenehm. Annika stand in einer geräumigen Eingangshalle.
»À droite.«
Sie überlegte kurz, dann ging sie nach rechts.
Vor ihr öffnete sich eine Tür. Sie bekam einen leichten Knuff in den Rücken und stolperte in einen Raum mit einem Schreibtisch und einem alten Stuhl.
»Attendez ici.«
Hinter ihr ging die Tür zu. Sie hörte, wie ein Schlüssel im Schloss umgedreht wurde.
Sie blickte sich um und atmete auf. Wenigstens war es nicht stockfinster. Auf dem Schreibtisch brannte eine kleine Tischlampe.
Irgendwo hier musste es eine Frau geben, die Fatima hieß, sonst hätte man sie wohl kaum hereingelassen. Und als sie Suzette erwähnte, hatte sich das Tor geöffnet.
Sie trat an ein Fenster, das hinter zugezogenen Vorhängen verborgen war. Sie schob den Vorhang ein wenig zur Seite, um hinauszublicken, sah aber nichts. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass es von außen mit Fensterläden verschlossen war.
Dann hörte sie etwas im Türschloss rasseln. Sie ließ den Vorhang los, als hätte sie sich daran verbrannt, und ging schnell an die Stelle zurück, an der der bewaffnete Mann sie zurückgelassen hatte.
Eine Frau Mitte fünfzig in schwarzen, traditionellen Kleidern betrat das Zimmer. Sie sagte noch kurz etwas in die Eingangshalle und schloss die Tür hinter sich.
Dann wandte sie sich Annika zu. Sie war groß, fast eins achtzig, mit sorgfältig geschminkten schwarzen Augen und großen Ringen an den Fingern.
»Sie wollten mich sprechen?«, sagte sie in bestem Oxford-Englisch.
»Sind Sie Fatima?«, fragte Annika.
»Das bin ich.«
»Ich heiße Annika Bengtzon. Ich komme aus Schweden. Ich arbeite bei einer Zeitung, beim …«
»Ich weiß, wer Sie sind.«
Annika holte Luft, bekam aber keinen Ton heraus.
Fatima ging um den Schreibtisch herum und setzte sich auf den alten Stuhl.
»Warum sind Sie hergekommen?«
Der Blick, mit dem sie Annika ansah, verriet, dass sie es gewohnt war zu befehlen.
Annika musste sich zusammenreißen, um nicht zurückzuweichen.
Zumindest bin ich hier richtig. Sie weiß, wer ich bin. Dann weiß sie auch, was ich mache.
»Ich bin Journalistin«, fuhr Annika fort. »Ich hätte gerne Antwort auf einige Fragen.«
Fatima verzog keine Miene.
»Warum sollte ich Ihre Fragen beantworten?«
»Warum nicht? Wenn Sie nichts zu verbergen haben?«
Fatima musterte sie lange.
»Vielleicht können Sie mir etwas beantworten«, sagte sie dann.
»Ich? Was denn?«
»Wo ist Filip?«
Annika starrte die Frau an.
»Filip?«, echote sie. »Filip Andersson?«
Fatima nickte kurz.
Annika räusperte sich. Es war kein Geheimnis, dass sie nach seiner Freilassung auf der Pressekonferenz gewesen war. Sie hatte nichts zu verlieren, wenn sie antwortete.
»Er wurde gestern Morgen aus dem Gefängnis in Kumla entlassen. Ich habe ihn danach in Stockholm im Büro seines Anwalts gesehen, das war kurz vor Mittag. Seitdem nicht mehr.«
Sie unterbrach sich.
»Ich habe keine Ahnung, wo er jetzt ist.«
»Um wie viel Uhr haben Sie ihn in Stockholm gesehen?«
Annika dachte
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