Kalter Süden
massivem Holz mit einem klobigen Stuhl davor. Auf dem Schreibtisch stand eine Kerze in einem Kerzenhalter, daneben lag eine Schachtel Streichhölzer.
Was für ein Zimmer war das hier? Ein Gästezimmer? Ein Kinderzimmer? Eine Personalunterkunft? Oder war es eine Zelle?
Im Moment diente es definitiv als Letzteres.
Sie stand entschlossen auf, ging zur Tür und hämmerte aus voller Kraft mit der rechten Faust dagegen.
»Lasst mich raus!«, rief sie auf Schwedisch. »Verdammt, ich muss auf die Toilette. Hallo! Hört mich jemand?«
Sie hörte auf zu klopfen und legte das Ohr an die Tür, um zu lauschen, ob jemand kam.
Das Einzige, was sie hörte, war ihr eigener Herzschlag.
Sie wartete fünf Minuten, dann setzte sie sich wieder aufs Bett.
Sie musste pinkeln, daran führte kein Weg vorbei. Wenn es nicht anders ging, musste sie eben auf den Fußboden machen.
Plötzlich kam ihr eine Idee, sie bückte sich und schaute unters Bett.
Ganz richtig, da stand ein Nachttopf aus Emaille. Fast genau so einer, wie ihn ihre Großmutter in Lyckebo unter dem Bett gehabt hatte, in ihrem Häuschen im Wald, in dem es kein fließend Wasser gab.
Annika zog den Nachttopf hervor, ließ die Jeans herunter und schloss erleichtert die Augen.
Hinterher schob sie den Topf so weit wie möglich nach hinten an die Wand.
Sie setzte sich auf den Stuhl am Schreibtisch.
Es war vollkommen still im Haus.
Ihre Großmutter hatte Ellen und Kalle nicht mehr kennengelernt.
Annikas Kinder hatten nie in einer zugigen Kate am Hosjön in einen eiskalten emaillierten Nachttopf gepinkelt.
Wenn sie das Geld von der Versicherung bekam, würde sie in Sörmland eine Hütte im Wald kaufen.
Sie stand auf, um wieder gegen die Tür zu hämmern, überlegte es sich dann aber anders.
Man würde sie nicht eher herauslassen, nur weil sie Lärm machte. Sich die Hände kaputtzuschlagen war also nicht besonders konstruktiv.
Die Tasche war vom Bett gefallen, sie hob sie auf und kramte Block und Stift heraus.
Sie biss auf ihren Kugelschreiber und rekapitulierte, was sie bis jetzt in Erfahrung gebracht hatte.
Die Frau namens Fatima kannte Filip Andersson und wusste, dass er aus Kumla entlassen worden war. Ihre Frage nach seinem Pass verriet, dass sie glaubte, er wolle verreisen. Dass sie nicht erstaunt war, als Annika von Suzette sprach, bedeutete vermutlich, dass das Mädchen tatsächlich hier war oder dass Fatima zumindest wusste, wo man sie versteckt hielt.
Die Farm, auf der sie sich befand, war groß und gut in Schuss. Das bisschen, was sie von Häusern und Mauern gesehen hatte, wirkte gepflegt.
Annika erhob sich, zog die Vorhänge auf und blickte aus dem Fenster.
Sie sah nicht viel, nur den Innenhof, durch den sie am Vorabend gegangen war, die Innenseite der Mauer und auf den Hügeln ringsum wogende Felder. Sie befand sich im obersten Stockwerk des großen Wohnhauses. Rechter Hand stand das niedrigere Gebäude, das vermutlich den Stall und die Wirtschaftsräume enthielt.
Plötzlich sah sie eine junge Frau mit Kopftuch, die mit zwei kleinen Jungen aus dem Stall kam. Ob das Amira war?
Sie presste die Nase an die Fensterscheibe.
Nein, diese Frau war viel älter, sie musste an die fünfundzwanzig sein. Sie hatte an jeder Hand ein Kind und ging auf das Hoftor zu, durch das Annika gestern Abend gekommen war.
Jenseits der Mauern erstreckten sich üppige Felder, so weit das Auge reichte. Annika konnte von ihrem Fenster aus die Pflanzen nicht erkennen, aber ihr war klar, dass es kein Kartoffelkraut war. Bei Wikipedia hatte sie gelesen, dass Cannabis sativa eine sehr robuste, schnell wachsende Pflanze war, die mit den meisten klimatischen Bedingungen zurechtkam und auch noch in Höhen bis zu dreitausend Meter über dem Meeresspiegel gedieh. Für den europäischen Absatzmarkt wurde sie vor allem in den Rif-Bergen im Norden Marokkos angebaut.
Annika erinnerte sich an Knut Garens anschauliche Beschreibung der rhythmischen Schläge, die in den Herbstmonaten von den marokkanischen Bergen widerhallten, dumm-dumm, dumm-dumm, wenn die Pollen zwischen Lagen aus dünnem Stoff aus den Cannabispflanzen herausgedroschen wurden.
Es rasselte im Schloss, und der junge Mann vom Vorabend stand in der Tür.
»Suivez-moi.«
Sie stopfte Block und Stift in die Tasche und folgte ihm.
»Laissez-le ici.«
Sie sollte ihre Tasche hierlassen. Was wohl bedeutete, dass sie jetzt irgendwohin ging und später zurückkommen würde. Oder …?
»Où allons-nous?« , fragte sie.
Wohin gehen
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