Kalter Süden
haben sie Gasmasken getragen.
Was der Konkurrenten wohl macht, dachte sie, als sie auf »Senden« gedrückt hatte und ihr Artikel durchs Netz flitzte. Eigentlich hätte sie inzwischen längst auf einen Reporter der Konkurrenz stoßen müssen. Dass dies nicht der Fall war, konnte entweder bedeuten, dass sie ihnen weit voraus war und viel bessere Informationen ausgegraben hatte, oder sie war auf einer völlig falschen Spur und hatte die ganze Sache in den Sand gesetzt.
Das wird sich schon noch zeigen, dachte sie verbissen und lud die Fotos von ihrer Kamera auf den Rechner.
Ihr Handy klingelte.
Es war Anders Schyman.
»Hören Sie«, sagte er. »Ich habe eben einen merkwürdigen Anruf von einem Reporter des Konkurrenten bekommen. Haben Sie mit einem hohen Tier aus dem Justizministerium vor einem Lokal rumgeknutscht?«
»Nein«, sagte Annika. »Wir waren zusammen essen. Er hat mir ein paar Infos zu einem Fall gegeben, und zum Abschied hat er mir ein paar spanische Wangenküsse aufgedrückt. Machen Sie sich Sorgen deswegen?«
»Überhaupt nicht. Geht’s Ihnen gut?«
»Blendend, aber ich habe jede Menge zu tun.«
»Okay, dann will ich Sie nicht weiter stören.«
Sie verabschiedeten sich, und Annika legte das Handy weg.
Die Fotos vom Söderström-Anwesen waren ganz gut geworden. Das Haus sah so aus, wie es wirklich war, groß und protzig, und es warf lange Schatten auf das Grundstück.
Sie hatte sogar eine Idee für eine Schlagzeile: MÖRDER KANNTEN DEN CODE !
Anschließend nahm sie sich die »Idylle unter Schock« vor.
Sie beschrieb das Wohnviertel, die Angst der Nachbarn, die auffällige Trauer im schwedischen Stammlokal, und zum Schluss zitierte sie Carita, wenn auch anonym:
»Das ist doch schrecklich. Irgendwann musste so etwas ja passieren, bei all den Gasüberfällen in der letzten Zeit.« Und: »Die Leute werden nach dieser Sache viel vorsichtiger sein, auf jeden Fall.«
Sie fügte ein Foto hinzu, auf dem die protzige Einfahrt zum Wohnviertel der Familie zu sehen war, und außerdem sämtliche Aufnahmen, die sie von den Schweden im Lokal gemacht hatte, inklusive Namens- und Altersangabe.
Blieb das Schwierigste: der Artikel über die Familie.
Sie rief die Homepage des Abendblatts auf. Der Bericht über ein Wortgefecht zwischen einem Fernsehmoderator und einem Politiker stand ganz oben auf der Seite, als Nächstes kam die Meldung über ein Dokusoap-Sternchen, das sich in einer Live-Sendung übergeben hatte, und zu guter Letzt folgten die aktuellen Nachrichten in absteigender Reihenfolge. Der Gasmord kam an siebter Stelle.
Neben dem Bericht fanden sich Fotos von den fünf Opfern: Sebastian Söderström, 42 , Veronica Söderström, 35 , Mü Söderström, 8 , Leo Söderström, 5 , und Astrid Paulson, 68 . Die Bilder waren von unterschiedlicher Qualität, keines schien aktuell zu sein.
Sie begann, das Schuljahrbuch durchzublättern, das sie von Carita bekommen hatte. Das Jahrbuch des Marbella International College stach in Größe und Aufmachung so manchen schwedischen Bildband aus. Da gab es eine Präsentation der Schule, eine Beschreibung aller Unterrichtsfächer, Kurse und Räumlichkeiten und zum Schluss Gruppenbilder jeder Klasse, ordentliche Reihen von Schülern in hellblauen Schuluniformen.
Nach wenigen Minuten hatte sie Leo und Mü auf den Klassenfotos entdeckt.
Leo war hier viel älter als auf dem Foto, das auf der Homepage des Abendblatts abgebildet war, mit wuscheligen blonden Haaren und einer Lücke zwischen den Vorderzähnen. Er wirkte wie ein echter Lausebengel. Mü trug ein hellblaues Schulkleid und Zöpfe, ganz entzückend.
Annika schluckte und rief die Rezeption an, um sie zu bitten, die Fotos einzuscannen und auf ihren Rechner zu schicken. Ein müder Typ mit Akne holte das Jahrbuch bei ihr ab und versprach lustlos, sich darum zu kümmern.
Das Dasein der Familie Söderström wirkte so idyllisch, dass man grün vor Neid werden konnte. Aber war es das wirklich gewesen? War es nicht eher klein und beschränkt? Veronica hatte sich in einem Frauenverband engagiert, und Sebastian hatte sich um den Sportnachwuchs gekümmert. Leo war ein Lausebengel und Mü ein süßes, artiges Püppchen. Das stank dermaßen nach klischeehaften Geschlechterrollen, dass sie sich beinahe die Nase zuhalten wollte.
Annika legte die Hände auf die Augen. Sie war so müde, dass sich alles um sie herum drehte.
Dann begann sie zu schreiben. Sie schrieb über Sebastian und seinen Wunsch, dem Leben, das ihn so reich
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