Kalter Süden
Fenster geöffnet sein. Sie wollte nicht noch einmal fragen, hätte aber gerne gewusst, ob wirklich alles Gas hinausgelüftet worden war.
Der Regen prasselte auf die Dachziegel. Im Obergeschoss erstreckte sich ein Flur in beide Richtungen, und der Polizist bog nach links. Ihre Schritte hallten vom Steinboden wider. Vom Korridor, an dessen Enden sich jeweils eine dekorierte Flügeltür befand, gingen an der Längsseite zwei Türen ab. Der Polizist deutete auf eine Tür.
»Dort haben wir die Kinder gefunden«, sagte er.
Annikas Hals schnürte sich zu, und sie schnappte nach Luft.
Das Schlafzimmer der Eltern, dachte sie und rief sich selbst zur Ordnung.
»Und hier hat das Mädchen gewohnt, aber das wissen Sie ja«, fuhr er fort und öffnete die erste Tür auf der linken Seite.
Annika blieb auf der Schwelle stehen.
Der Raum war ziemlich klein und in Rosa und Gelb gehalten. Eine Glastür führte auf einen großen Balkon mit Blick über den Pool, weiter unten war durch den Regen der Golfplatz zu erahnen. In der einen Ecke stand ein rosa lasierter Schreibtisch mit lederbezogener Platte und geschwungenen Beinen, darauf lagen Pinsel, Wasserfarben und Malpapier. Ein Glas mit trübem Inhalt stand daneben, der Malbecher, in dem Mü jedes Mal den Pinsel gewaschen hatte, bevor sie eine neue Farbe nahm. Das Bett in der anderen Ecke war so zerwühlt belassen worden, wie es gewesen war, als das Mädchen vom Gasalarm geweckt worden und herausgekrabbelt war.
Annika musste sich räuspern, betrat den Raum und ging zum Bett. Am Fußende lag eine Puppe mit braunen Locken. Sie hockte sich hin und nahm sie in die Hand.
»Creo que la señora quiere estar sola« , sagte Carita zum Polizisten, und das verstand Annika.
Ich glaube, die Frau möchte allein sein.
Der Polizist schloss die Tür hinter Annika. Es wurde totenstill im Zimmer. Der Regen trommelte auf die marmorne Terrasse.
Sie biss die Zähne zusammen und kramte ihr Handy heraus. Richtete es auf das Bett, sah die zerwühlte Decke auf dem Display und drückte auf den Auslöser. Dann ging sie zum Schreibtisch und betrachtete das von Kinderhand gemalte Bild, das dort lag.
Es zeigte ein Mädchen auf einem braunen Pferd. Die Sonne schien, und das Gras war grün. Das Mädchen und das Pferd lachten. Tränen stiegen Annika in die Augen, so dass sie sich auf die Lippe beißen musste. Sie richtete das Handy auf das Motiv und drückte mehrmals auf den Auslöser, bevor sie das Telefon wieder in die Tasche stopfte. Dann zögerte sie einen Moment, warf einen raschen Blick zur Tür, nahm das Bild, rollte es zusammen und steckte es ein. Zum Schluss legte sie den kleinen gelben Hund auf das Kopfkissen des Mädchens, ging zur Tür, betrachtete noch einmal den Raum und trat zurück auf den Flur. Vorsichtig zog sie die Tür hinter sich zu, und leise klapperte eine Tafel mit dem Schriftzug »Hier wohnt Mü«.
Carita und der Polizist waren ins Elternschlafzimmer gegangen, aus dem Annika gedämpftes Murmeln hörte. Eine Hälfte der Flügeltür stand offen und ließ graues Tageslicht in den hinteren Teil des Flurs fallen.
Annika holte ihr Handy hervor. Ihre Hand zitterte, als sie die Tür fotografierte, an der die Kinder und ihre Mutter tot aufgefunden worden waren.
Langsam ging sie den Flur entlang und verstaute ihr Telefon. An der nächsten Tür hing eine ähnliche Tafel wie bei Mü, nur mit dem Text »Hier wohnt Leo«. Noch einmal kramte Annika in ihrer Handtasche, bis sie Kalles kaputten Rennwagen fand. Sie zog die Tür auf und betrat das Zimmer des Jungen.
Dort drinnen herrschte Chaos.
Das Bett war ungemacht, genau wie das seiner Schwester, Annika konnte die Bettwärme der schlafenden Kinder fast noch erahnen, diesen besonderen Geruch und die Feuchtigkeit in den Laken. Auf dem Boden lagen Kleider und Autos und Dinosaurier in einem einzigen Durcheinander. Ein großes Bücherregal quoll über von diversen Sportartikeln, Tennisschlägern, Golfbällen und Baseballhandschuhen.
Auf dem Schreibtisch – es war dasselbe Modell wie bei Leos Schwester, nur in Grün – standen ein Teller mit einem halb gegessenen Butterbrot und ein Glas mit eingetrockneten Kakaorändern. Der Käse war am Rand schon hart und dunkel geworden, und auf dem Kakao hatte sich eine Haut gebildet.
Sie atmete durch den Mund, um besser Luft zu bekommen, nahm das Telefon erneut zur Hand und drückte auf den Auslöser: Das Bett, der Kakao, ein Teddy auf dem Boden.
»Señora?«
Der Polizist stand in der Tür, Annika fuhr
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