Kalter Süden
herum. In der Hand hielt sie noch immer den Rennwagen und das Telefon.
Sie schluckte hörbar.
»Für Leo«, sagte sie und legte das Auto auf das Kopfkissen.
Dann verließ sie das Zimmer, wandte sich direkt nach links und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, ins Schlafzimmer der Eltern, das um ein Mehrfaches größer war als die Kinderzimmer. Ein großer Sekretär im Empirestil stand an der rechten Wand. Ihr Blick wanderte automatisch zur Belüftungsöffnung.
» Señora, ich muss Sie bitten, sich ein wenig zu beeilen. Die Ermittler sind unterwegs hierher. Wollen Sie für das große Mädchen auch etwas dalassen, bevor Sie gehen?«
Das große Mädchen?
Sie drehte sich zu dem Polizisten um und nickte.
Der Mann ließ ihr mit einer Handbewegung den Vortritt.
»Einen Augenblick nur«, bat Annika und strich sich über die Stirn.
»Natürlich, selbstverständlich«, sagte der Polizist und trat hinaus in den Flur.
Sie sah sich um. Das Bett war groß, mit einem zwei Meter hohen Kopfteil. Die Decken, mit deren Hilfe Sebastian das Gas hatte stoppen wollen, lagen nicht mehr auf dem Boden. Die Polizei hatte sie in der Mitte der Matratze auf einen Haufen geworfen.
Dort sind sie zum letzten Mal in ihrem Leben eingeschlafen, dort sind sie vom Heulen der Alarmanlage aufgewacht, hier sind sie gestorben, bevor sie es zu ihren Kindern schafften …
Sie machte erst ein Bild vom Bett. Anschließend richtete sie das Handy auf den Schreibtisch und die Belüftungsöffnung und drückte noch zweimal auf den Auslöser.
Dann ging sie eilig hinaus in den Flur. Der Polizist schloss sorgfältig die Tür hinter ihr. Gemeinsam stiegen sie die Treppe wieder hinunter. Carita wartete an der Terrassentür.
»Nur noch ein Zimmer«, sagte der Polizist und durchquerte die Halle nach rechts.
Sie kamen an der Küche vorbei, eine rustikale Angelegenheit mit passendem Holztisch in der Mitte und dunklen Regalen an den Wänden, die mit Unmengen bemalter Keramik vollgestellt waren.
Der Polizist blieb vor einer Tür neben der Küche stehen. Dort hing die gleiche Tafel wie an den beiden Kinderzimmern. Der Text lautete: »Hier wohnt Suzette«.
Wer ist Suzette?, dachte Annika, aber diese Frage konnte sie wohl schlecht stellen.
»Wo ist Suzette?«, fragte sie stattdessen. »Sie war ja nicht hier, als es passiert ist, oder?«
Der Polizist öffnete die Tür. Annika blickte in ein sauberes Jugendzimmer. Das Bett war gemacht und die Tagesdecke ordentlich darübergebreitet. Ein Laptop, der so aussah wie ihr eigener, stand ausgeschaltet, aber aufgeklappt auf dem Schreibtisch. Ein verblichenes Poster von Britney Spears hing neben der Tür.
Der Polizist schaute auf die Uhr und machte ein besorgtes Gesicht.
»Señora« , drängte er, »ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen.«
Annika nickte.
»Danke für Ihre Freundlichkeit«, sagte sie und zog sich schnell zurück.
Als sie wieder in der großen Eingangshalle waren, schielte sie hinüber zu den anderen Räumlichkeiten. Sie konnte einen Salon mit dunkelbraunen Ledermöbeln ausmachen und eine Bibliothek mit maßgefertigten Bücherregalen.
»Muchas gracias« , bedankte sich Annika noch einmal, und dann gingen Carita und sie hinaus auf die Terrasse.
Der Regen hatte plötzlich aufgehört und dampfende Wiesen und sprudelnde Bäche auf dem Pflaster hinterlassen.
Langsam gingen sie hinunter zur Straße, der Polizist öffnete ihnen das Tor, und dann standen sie draußen.
»Haben Sie bekommen, was Sie wollten?«, fragte Carita.
Annika lehnte sich ans Auto und schloss die Augen.
»Ihre Überredungskünste sind unglaublich«, sagte sie. »Wie haben Sie das hingekriegt?«
»Ich werde es Ihnen als ›Spesen‹ berechnen«, erwiderte die Dolmetscherin und sah verwundert in Annikas verständnisloses Gesicht. »Sie haben doch nicht ernsthaft geglaubt, dass er uns ins Haus gelassen hat, weil wir so hübsch sind und er so nett ist?«
Ich bin wirklich wahnsinnig naiv, dachte Annika.
» 100 Euro haben gereicht«, sagte Carita. »Sie sind immerhin eine trauernde Freundin. Einen Reporter hätte er nie im Leben reingelassen, aber es erfährt ja sowieso niemand davon. Man kann hier zwar das Abendblatt kaufen, aber die Auflage ist klein. Wohin fahren wir jetzt?«
»Kennen Sie eine Suzette?«
Die Dolmetscherin schüttelte den Kopf.
»Suzette? Wer soll das sein?«
»Es gab noch ein drittes Kinderzimmer, ein Jugendzimmer mit separatem Eingang gleich neben der Küche. ›Hier wohnt Suzette‹ stand an der Tür … Moment
Weitere Kostenlose Bücher