Kalter Süden
sie etwas dagegen tun konnte, durch ihre Finger, in den Hörer und über alle Ufer. Sie weinte eine Weile unkontrolliert und mit laufender Nase.
»Entschuldige«, sagte sie, als die Schluchzer langsam nachließen.
»Warum hast du nichts gesagt?«, fragte er leise.
»Ich weiß nicht«, flüsterte sie. »Ich hatte wohl Angst, dass du mich verlassen würdest.«
Aus seinem Schweigen klang seine ganze Verwunderung.
»Aber«, sagte er, »du hast mich doch regelrecht vertrieben. Du hast nicht mehr mit mir gesprochen, ich durfte dich nicht mehr anfassen …«
»Ich weiß«, sagte sie. »Entschuldige.«
Sie schwiegen eine ganze Weile.
»Das wurde aber auch mal Zeit«, sagte er.
Sie lachte auf, wischte sich die letzten Tränen aus dem Gesicht.
»Ich weiß«, sagte sie wieder.
»Die Kinder haben erzählt, dass du eine neue Wohnung hast«, sagte er. »Hast du sie gekauft?«
Sie schnäuzte sich in ein Papiertaschentuch, das sie in ihrer Tasche gefunden hatte.
»Gemietet«, sagte sie. »Ganz legal. Hab sie durch Beziehungen bekommen.«
»Wie denn? Über deinen neuen Freund Halenius?«
Ihr Trotz erwachte erneut, aber sie schluckte ihn hinunter.
»Nein«, sagte sie. »Nicht über ihn. Und das Bild in der Zeitung ist total missverständlich. Wir haben zusammen zu Abend gegessen, und er hat mir … Informationen zu einer Sache gegeben, an der ich arbeite. Zum Abschied hat er mir einen spanischen Wangenkuss gegeben, weil ich doch am nächsten Tag nach Spanien fahren sollte. Außerdem habe ich überhaupt keinen Wein getrunken. Ich mag gar keinen Rotwein, das weißt du doch …«
»Schrecklich, was die Journalisten sich alles aus den Fingern saugen«, sagte er.
Sie wischte sich mit dem Papiertaschentuch die Wimperntusche unter den Augen weg.
»Ich finde das Ganze eigentlich nur lächerlich. Aber für Halenius ist es vielleicht schlimmer.«
»Sie schreiben, dass er an diesem Abend Dienst hatte.«
»Ich habe den Artikel noch nicht gelesen«, sagte Annika. »Aber wenn Jimmy Halenius ein Dienstvergehen begangen hat, muss ich mir deswegen keine Kopfschmerzen machen. Du schon eher …«
Sie mussten beide lachen, mit einer Einmütigkeit, die Annika erstaunte.
Dann seufzte Thomas.
»Ich weiß jetzt schon, wie mich am Montag alle anglotzen werden.«
»Nicht nur dich«, sagte Annika.
Sie lachten wieder. Dann wurde es still in der Leitung.
»Soll ich die Kinder am Sonntag bei dir vorbeibringen? Dann kann ich mir die neue Wohnung ansehen.«
So etwas hatte er noch nie vorgeschlagen. Er war kein einziges Mal in dem Büro in Gamla Stan gewesen, in dem sie ein halbes Jahr gewohnt hatte.
»Da gibt es nicht so viel zu sehen«, sagte Annika. »Ich habe es noch nicht geschafft, die Kisten auszupacken.«
»Wo liegt die Wohnung?«
»Agnegatan 28 .«
»Aber … das ist ja …«
»… unser altes Viertel, ja.«
Wieder schwiegen sie.
»Wie geht es den Kindern?«
»Gut. Wir sind im Park. Sie spielen Fangen. Willst du mit ihnen sprechen?«
Sie schloss einen Moment die Augen.
»Nein«, sagte sie dann. »Lass sie spielen.«
»Sagen wir, ich komme gegen sechs, okay? Am Sonntag?«
Sie legten auf, und Annika blieb mit dem Telefon in der Hand stehen. Dann sank sie auf dem Bett zusammen und kroch unter den Überwurf. Plötzlich war der Ziegelstein in ihrer Brust, den sie schon so lange mit sich herumtrug, nicht mehr ganz so deutlich spürbar. Er war kleiner und leichter geworden, und seine Kanten waren längst nicht mehr so scharf. Nur einen kleinen Moment, nur ein paar Minuten, nur so lange, dass sie das Gefühl genießen konnte …
Beinahe wäre sie eingeschlafen. Sie stand abrupt auf.
Sie musste doch noch den Artikel über sich selbst lesen.
Annika setzte sich aufrecht hin und räusperte sich, als müsste sie eine Ansprache halten.
»Von Bo Svensson«, las sie.
Blöder Affe, dachte sie.
»Für gewöhnlich ist es Annika Bengtzons Aufgabe, den Mächtigen Schwedens auf die Finger zu schauen«, begann der Artikel. »Heute können wir feststellen, dass sie noch weiter geht. Vorgestern Abend wurde sie im Restaurant Järnet in Stockholm gesehen – zusammen mit dem engsten Vertrauten des Justizministers, dem Staatssekretär und Sozialdemokraten Jimmy Halenius. Das Bild zeigt ein ausgelassenes Paar, das sich küsst und umarmt. Doch das Abendblatt hat volles Vertrauen zu seiner Journalistin.
›Ja, ich vertraue auf ihr Urteil‹, sagt Chefredakteur Anders Schyman.
Frage: Schadet diese Entdeckung Annika Bengtzons
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