Kalter Süden
Glaubwürdigkeit?
›Absolut nicht.‹
Doch kritische Stimmen sind da anderer Meinung.
›Annika Bengtzon hat die Grenze überschritten, als sie ihren Informanten geküsst hat‹, behauptet der politische Feuilletonist Arne Påhlson.
Frage: Wie wirkt sich diese Vertraulichkeit auf Annika Bengtzons Rolle als Regierungskritikerin aus?
›Es ist klar, dass ein solches Verhalten Zweifel an ihrer Integrität aufwirft …‹«
Sie musste aufstehen und ein paar Schritte gehen.
Wer zum Teufel war Arne Påhlson, dass er meinte, sie kritisieren zu dürfen? Ein überschätzter Allerweltsreporter, der plötzlich als Experte für Ethik und Moral hingestellt wurde.
Ihr könnt mich alle mal.
Sie ging zurück an den Rechner.
»Im Justizministerium, wo Jimmy Halenius zu den obersten Führungskreisen gehört, bleibt man gelassen.
›Es ist nichts Neues, dass Politiker und Journalisten miteinander in Kontakt stehen‹, so der Pressesprecher des Justizministers.
Inwieweit Jimmy Halenius am betreffenden Abend Dienstverpflichtungen hatte, wird vom Justizministerium nicht kommentiert. Annika Bengtzon beruft sich auf den Schutz ihrer Quellen und möchte sich nicht äußern.«
Sie schob den Laptop von sich und stand auf. Sie spürte, wie ihr Herz klopfte.
Wie unangenehm, von sich selbst in der dritten Person zu lesen. Sie, als Mensch, hatte keinerlei Wert. Sie war lediglich ein Symbol, ein Sündenbock, platziert in einer konstruierten Wirklichkeit, die mit den Tatsachen wenig zu tun hatte.
Sie begriff, dass sie gegenüber den umfassenden Verallgemeinerungen der Zeitung völlig machtlos war. Es spielte keine Rolle, ob das Geschriebene wahr oder relevant war, ausschlaggebend war allein die Entscheidung der Medien, das Weltbild der Zeitung, die zurechtgebogene Wahrheit.
Sie hob den Laptop hoch und widerstand mit Mühe dem Impuls, ihn an die Wand zu schmettern.
Schließlich setzte sie sich wieder, atmete dreimal tief durch und rieb sich die Augen, um einen professionelleren Blick zu bekommen.
Dann las sie den Artikel noch einmal.
Es war wirklich kein guter Text.
Natürlich folgten solche Artikel einem lächerlich gleichartigen Muster, aber dieser hier war außergewöhnlich klischeehaft. Bosse hatte Probleme gehabt, sich auszudrücken.
Einen Augenblick lang schämte sie sich ein wenig, dass sie sich selbst leidtat, weil die Journalisten so dumm waren.
Arbeitete sie selbst auch so? Überfuhr sie die Menschen in ihren Artikeln?
Bestimmt. Logisch. Wahrscheinlich täglich.
Welche Alternativen gab es? Einen ganz eigenen journalistischen Bezugsrahmen schaffen? Nicht mehr interpretieren? Keine Schlagzeilen und Bilder mehr suchen? Nur noch referieren und nicht mehr reflektieren?
Sie ging im Raum auf und ab und schob den Gedanken von sich.
Als sie sich wieder hingesetzt hatte, scrollte sie auf der Website nach oben, um zu sehen, was sie über den Gasmord brachten. Die Reportage stammte von der Korrespondentin in Madrid, einer aparten Frau um die fünfzig, die sicher perfekt Spanisch sprach. Sie hatten ebenfalls ein von der Straße aus aufgenommenes Bild vom Haus, aber die Schatten fielen anders. Der Fotograf war namentlich genannt, ein Spanier. Die beiden bildeten also ein Team, und sie waren schon früher vor Ort gewesen.
Der Artikel lieferte die gleichen Fakten, die Annika von Niklas Linde bekommen hatte, lediglich von Quellen in der spanischen Polizei. Außerdem hatte das Team des Konkurrenten den Golfclub Los Naranjos besucht und trauernde Schweden interviewt. Die Zitate ähnelten denen, die Annika im La Garrapeta bekommen hatte.
Es stand also unentschieden zwischen ihr und der Korrespondentin in Madrid.
Es war immer wieder eine Erleichterung, nicht versagt zu haben …
Ihr Handy klingelte wieder, wütender diesmal, wie ihr schien. Sie ließ es zweimal läuten, ehe sie die Hand danach ausstreckte. Ein Blick aufs Display. Sie seufzte tief.
»Hallo, Patrik«, sagte sie.
»Der Golfclub trauert«, schrie Patrik. »Der Tennisclub trauert. Sieh zu, dass du eine Gang alter Hockeystars zusammentrommelst, die irgendwo auf einem Green eine Schweigeminute für Sebastian Söderström halten. Ach, Quatsch, warum nur Hockeystars? Nimm alle Sportler, die du kriegen kannst.«
»Ich habe noch ein paar andere Ansätze«, sagte Annika. »Innenaufnahmen aus dem Haus, die Stellen, wo die Familie gestorben ist. Außerdem scheint es noch ein weiteres Kind zu geben, ein Mädchen, das überlebt hat. Ich muss das noch
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