Kalter Tee und heiße Kuesse
tatsächlich Masken in Hülle und Fülle. „Ein Kostümverleih in Frankfurt hat letztens geschlossen, und da hab ich alle Sachen aufgekauft“, erzählte der Besitzer stolz und wurde nicht müde, bergeweise Klamotten anzuschleppen. Es gab auch Schuhe. Fabrizio entschloss sich relativ schnell für Riemchensandaletten mit Pfennigabsätzen und fühlte sich, wie er Lena ununterbrochen versicherte, so richtig weiblich. Auf seinem Kopf thronte eine Perücke, und deswegen umrahmten lange, schwarze Locken nun sein Gesicht. „Nachher werde ich mich noch schminken“, ließ er Lena glücklich wissen.
Die konnte sich an ihrem eigenen Spiegelbild nicht sattsehen. Immer wieder drehte sie sich in ihrem überdimensionalen Prinzessinnenkleid hin und her. Eigentlich war das kein Kleid, das war ein Gewand. Zartrosé und mit kleinen Lilienblüten durchwirkter Organzastoff. Fünf Röcke übereinander. Sie hatte ein wunderschönes Dekolleté, was daran lag, dass das enge Oberteil alles ein Stück weit nach oben schob. Lange cremefarbene Handschuhe und dann dieser wunderbare Schleier. Und das funkelnde Diadem, das sie auf ihre – mittlerweile ebenfalls durch eine Perücke blond gewordenen – Haare gesetzt hatte. Ja, die Haare! Mit Perlenschnüren durchzogen und künstlich aufgetürmt. Das ganze Gewand duftete nach Träumen, nach klassischer Musik, Kerzenschein, der aus üppigen Lüstern floss, nach barocken Spiegeln und Marmorboden, nach Königsschloss und heiler Welt.
„Eine Maske passt aber nicht dazu“, meinte der Besitzer, ein kleiner, drahtiger Mann um die fünfzig.
„Das stimmt.“ Fabrizio kratzte sich am Kinn.
Das Gesicht des Besitzers hellte sich auf. „Moment.“ Er lief weg, versank in einigen Stoffmetern und hielt dann triumphierend etwas hoch.
„Hier, ein Schleier. Fast blickdicht. Ich hatte ganz vergessen, dass der dazugehört.“
Mit geübten Griffen befestigte er den Schleier mit zwei strassbesetzten Klammern an der Perücke und klatschte dann in die Hände.
„Wenn ich nicht schon verheiratet wäre, würde ich mich jetzt glatt in Sie verlieben.“ Er lachte Lena an. Dann suchte er ihr noch die passenden Schuhe heraus, und Lena schwebte kurze Zeit später in Satinpumps mit goldenen Absätzen durch den Laden. Fabrizio musste schmunzeln. Wenn sie wüsste!
Magnus bereute es mittlerweile, dass er auf die Idee gekommen war, Kai und Hector mitzunehmen. Alle dreißig Kilometer musste einer von beiden aufs Klo. „Wir haben eine schwache Blase“, rechtfertigte Kai sein Handeln. Hielt Magnus nicht gleich an, quengelte Kai wie ein Kleinkind herum, rutschte unruhig auf seinem Sitz hin und her und jammerte „Ich muss. Ich muss ganz dringend.“
Mittlerweile war es schon halb sieben, und sie befanden sich gerade auf der Raststätte Wetterau, ungefähr dreißig Kilometer nördlich von Frankfurt am Main. Hector brauchte eine Pause, diesmal nicht, weil er aufs Klo musste, sondern weil er Auslauf nötig hatte. Magnus hätte ihm am liebsten die Gurgel herumgedreht. Wie sein Auto aussah! Südlich von Hannover hatte es offenbar geregnet, und Hector sprang natürlich mit seinen nassen, verdreckten Pfoten in Magnus’ sauberen Wagen. Dauernd drückte er seine feuchte Hundeschnauze an die Scheiben. Kai verursachte ein ähnliches Chaos mit seinen ganzen Tupperdosen, seiner Thermoskanne, die er nicht richtig zugemacht hatte und aus der Kaffee auf das Sitzpolster lief. An die Kekskrümel und die ganzen Zeitschriften, die Kai sich in jedem Rasthof gekauft hatte, wollte er lieber gar nicht denken. Zum Glück klagte er wenigstens nicht ständig über sein Gipsbein. Er erzählte Magnus nur kurz, wie es zu dem Gips gekommen war: „Hector ist ja ein Lieber, aber auch ein ganz Wilder. Er hat mich vor ein paar Wochen vor einen Lastwagen gezogen.“ Hector brauchte natürlich auch sein Fressen und Wasser, und so befanden sich auf der Rückbank zwei Näpfe, von denen einer mit Dickie-Dick-Diät-Pansen gefüllt war, was so entsetzlich stank, dass noch nicht einmal die Klimaanlage Herr darüber wurde. Magnus würde drei Kreuze machen, wenn sie endlich, endlich in St. Goarshausen ankommen würden.
Während die viersitzige Cessna die Startbahn entlangsauste, schloss Johanna Melchior mit ihrem Leben ab. Ihre Hände waren schweißnass, und sie krallte sie verzweifelt ineinander. Ihre ebenfalls schweißnassen Haare klebten an ihrem Kopf, ihr Pulsschlag war jenseits von Gut und Böse, und ihr Herz würde garantiert jeden Augenblick stehen
Weitere Kostenlose Bücher