Kalter Weihrauch - Roman
alten Gemälden, die zum Himmel flehten. Mit ihrem verschlagenen Lächeln, das immer nur im Rücken der Schwestern aufblitzte. Mit den obszönen Gesten, über die alle hinweggesehen hatten, alle, bis auf Schwester Benedikta. Bei Tisch hatte sie gefressen wie ein Schwein und sogar gerülpst, dafür wurde man in anderen Orden an den Tisch der Oberin zitiert und musste als Zeichen der Reue und der Buße den Boden küssen. Aber die Ehrwürdige Mutter hatte es stillschweigend hingenommen. Als ob sie verhext gewesen wäre. Genauso, jetzt hatte sie es zu denken gewagt, das entsetzliche Wort. Diese Agota war eine Hexe gewesen. Deshalb hatten alle auch nur ganz verstohlen über sie getuschelt. Über diese Person, die von drüben gekommen war, wo der Antichrist so lang sein Zepter geschwungen hatte. Aus Ungarn. Wo sich Schwester Annunziata um Frauen kümmerte, die ihre Seelen längst dem Teufel verpfändet hatten. Für eitlen Tand und das Gegrabsche von Männern auf ihren nackten Leibern. Denn das war es doch, was diese verlorenen Seelen wollten, sich in Wollust suhlen. Zum Unterschied von Schwester Annunziata, die sie bisher nur ein einziges Mal gesehen hatte, als die für eine Woche zurück in die Heimat gekommen war, ließ sie sich da nichts vormachen. Eine irregeleitete Seele, die immerzu von armen Geschöpfen und Opfern schwätzte. Aber eine anständige Frau würde lieber im Feuer verbrennen als zur Hure zu werden. Das hatte auch Pater Anselm gesagt, damals im Religionsunterricht. Alle anderen im Klassenzimmer hatten gekichert, aber sie hatte ihn verstanden. Und dann hatte Pater Anselm sie zum Bibelkreis mitgenommen. Und endlich war sie nicht mehr allein gewesen. Ein junger Mann war neben ihr gesessen, der schon zweimal Exerzitien auf sich genommen hatte wegen der sündigen Gedanken, die ihn quälten. Da war so ein stummes Verstehen gewesen, so eine Nähe, keine wollüstige Berührung würde dem je nahekommen können. Der junge Mann war dann zum Theologiestudium nach Wien gegangen, und sie selbst hatte die Kraft gefunden, endlich den ihr vorbestimmten Weg einzuschlagen. Und jetzt hatte diese Agota alles kaputtgemacht. Oder es wenigstens versucht. Aber es war ihr nicht gelungen. Jemand hatte ihrem sündigen Leben ein Ende gesetzt. Nie wieder würde sie ganz hinten in der Bank sitzen beim Gebet und dreinschauen, als ob sie das alles nichts anginge. Nie wieder würde sie es wagen, ihre heisere Stimme zum Gesang zu erheben, einfach so, mitten im Garten, und es war ganz bestimmt kein Kirchenlied gewesen. Jetzt war sie im Fegefeuer, wo sie hingehörte. Der Herr hatte seine schützende Hand über dieses Haus gehalten.
Sie bekreuzigte sich. Das Auto der beiden Polizisten war längst zwischen den Bäumen verschwunden, sie musste schauen, dass sie in die Küche kam. Schwester Roswitha raffte ihren langen weißen Rock und eilte die Stufen hinunter und über den langen Gang zurück.
*
Den ganzen Vormittag über war der Nebel wie eine dicke Einbrennsuppe über dem See und allen Gemeinden rundherum gelegen. Aber jetzt begann das Grau aufzureißen, und die blauen Flecken wurden immer größer. Krinzinger seufzte voller Erleichterung. Endlich! Endlich wieder einmal ein paar Sonnenstrahlen! Die nicht nur ihm guttaten. Sondern auch allen anderen im Ort, er kannte ja ihre Gesichter von Kindheit an und konnte darin lesen, mehr als sich die meisten von ihnen vorstellen konnten. Mehr, als ihnen bestimmt lieb gewesen wäre.
Die Sonne brach hinter einer Wolke hervor und ließ das Wasser und den Schnee am Hang hinter der Kirche, wo bis vor ein paar Jahren noch ein altmodischer Schlepplift für die Kinder gewesen war, funkeln. So schön war die Gegend, so wunderschön, und alle Fremden glaubten immer, dass es wie ein einziger großer Urlaub sein musste, da zu leben. Wie in Disneyland, so stellten sich die meisten Touristen den Alltag in den vielbesungenen Orten vor. Im Weißen Rössl am Wolfgangsee , da steht das Glück vor der Tür … ha! Als ob es da keine Krankheit und keinen Tod geben würde. Keine Scheidungen. Keinen Hader und keine Zwietracht. Und die Sachen, die viel schlimmer waren, weil sie im Verborgenen geschahen. Die Menschen hatten ihre Sorgen und ihren Kummer genauso wie die in der Stadt, aber dazu mussten sie auch noch andauernd gut drauf sein wie die Sepplfiguren aus einem Heimatfilm – das erwartete sich der Gast eben in einer berühmten Fremdenverkehrsgemeinde. Ob es dieser Zwiespalt war, an dem so viele zerbrachen?
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